Was der Winter verschwieg (German Edition)
hinunter. „
C’est rien“
, sagte er. „Eine Fehlzündung, mehr nicht.
Merde.
Ständig muss man wachsam sein.“
Die ganze letzte Woche war die Stadt wegen vermehrter Bandenaktivitäten in erhöhter Alarmbereitschaft gewesen. Die Fahrer der Auslandsdienste waren beliebte Ziele für Raubüberfälle, da sie oft stundenlang an öffentlichen Plätzen warten mussten und dabei in ihren Autos schliefen.
Erneut nahm Sophie den Spiegel aus ihrer Tasche, um ihr Aussehen zu überprüfen. Sie hatte sich einem umfangreichen Krisentraining unterzogen und es mit einigen der gefährlichsten Menschen der Welt zu tun gehabt, und doch hatte sie nie wirklich um ihre Sicherheit gefürchtet. Es waren so viele Vorkehrungen getroffen worden, dass das Risiko extrem gering war.
André hob eine behandschuhte Hand – die wortlose Frage, ob bei ihr alles in Ordnung war. Sophie schob ihre Eitelkeit beiseite und nickte. In der Hand hielt sie die laminierte
carte d’identité
. Ihre Tür wurde geöffnet, und ein livrierter Angestellter hielt einen schwarzen Regenschirm über sie.
„On y va, alors“
, sagte Sophie zu André, was so viel hieß wie: Dann wollen wir mal.
„Assurément, madame“
, erwiderte er mit seinem melodischen Akzent. „
J’attends.“
Natürlich wartet er, dachte sie. Das tat er immer. Und dafür dankte sie Gott. Am Ende des Abends würde sie so high wie nie sein – vom Champagner und dem Gefühl, etwas Großes erreicht zu haben. Wie gern würde sie diese Aufregung mit jemandem teilen. André war ein guter Zuhörer. Während der kurzen Fahrt von ihrer Wohnung zum Palast hatte Sophie ihm gestanden, wie sehr sie ihre Kinder vermisste.
Gerade an diesem Abend hätte sie Max und Daisy zu gern an ihrer Seite gehabt, damit sie Zeugen der Ehre wurden, die ihrer Mutter zuteil wurde. Aber sie waren auf der andere Seite des Ozeans bei ihrem Vater, der an diesem Tag heiratete.
Heiratete.
Vielleicht sagte ihr Exmann genau in diesem Moment ein zweites Mal:
Ja, ich will.
Das Wissen darum drückte wie ein Stein im Schuh und nahm dem Abend ein wenig von seinem Glanz.
Hör auf, rief Sophie sich zur Ordnung. Das hier war
ihre
Nacht.
Sie stieg aus dem Wagen und rutschte auf dem nassen Kopfsteinpflaster aus. Eine albtraumhafte Sekunde lang glaubte sie, hinzufallen, doch ein starker Arm packte sie um die Taille und hielt sie fest. „André“, stieß sie ein wenig atemlos hervor. „Du hast gerade eine Katastrophe verhindert.“
„Rien du tout, madame“
, erwiderte er und blieb in ihrer Nähe. Das Licht schien auf sein ernstes, freundliches Gesicht.
Ihr wurde bewusst, dass dies das erste Mal seit … viel zu langer Zeit war, dass ein Mann sie in den Armen hielt. Sie schob den vollkommen unangebrachten Gedanken beiseite und trat einen Schritt vor. Die Kälte drang ihr in jede Pore. Ihr langer Kaschmirmantel wärmte sie an diesem Abend nicht genügend. Der Wetterbericht hatte Schnee vorhergesagt. Das kam in Den Haag nur äußerst selten vor, doch der Regen hatte sich bereits in Graupel verwandelt. Unter dem Regenschirm eilte sie an dem Wachhäuschen vorbei zur ersten Eingangskontrolle. Ein Weg führte um das Denkmal mit der immerwährenden Flamme des Friedens herum, die durch ein gehämmertes Metalldach vor dem Wetter geschützt wurde. Es waren noch einmal zwanzig Meter bis zum Säulengang, der für diesen Anlass mit einer Markise und einem roten Teppich ausgestattet worden war. Nachdem sie unter dem schützenden Vordach angekommen war, murmelte ihr Begleiter: „
Bonsoir, madame. Et bienvenue.“
Die meisten Angestellten sprachen Französisch, das, gemeinsam mit Englisch, die offizielle Sprache der internationalen Gerichte war.
„Merci.“
Der Begleiter mit dem Schirm kehrte in den Regen zurück, um den nächsten Gast abzuholen.
Die Schlange zum Haupteingang kam nur langsam vorwärts, da auf ihrem Weg die Garderobe und ein weiterer Sicherheitscheck passiert werden mussten. Sophie kannte niemanden von den Leuten in der Schlange, aber sie erkannte viele von ihnen – schwarz gekleidete Würdenträger und ihre Familien, Afrikaner in zeremonieller Tracht, Diplomaten aus der ganzen Welt. Sie waren gekommen, um die Zukunft von Umoja zu feiern, einem Land, das das Gericht gerade von einem Kriegsherren befreit hatte, der von einem illegal agierenden, korrupten Diamantensyndikat finanziert worden war.
Vor Sophie stand eine amerikanische Familie. Der uniformierte Ehemann hatte die unangestrengt gerade Haltung eines
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