Was der Winter verschwieg (German Edition)
Militärangehörigen. Die Frau und die Töchter im Teenageralter standen wie Satellitenstaaten um ihn herum. Sophie meinte, den Mann zu erkennen – ein Attaché vom obersten Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte Europas in Belgien. Sie sah jedoch von einer Begrüßung ab, da sie den fröhlichen Familienausflug nicht stören wollte.
Die Frau des Attachés drängte sich nahe an ihn, als wenn sie sich vor der Kälte schützen wollte. Sie war etwas mollig und sehr zurückhaltend gekleidet. Wie Sophie trug sie schlichte goldene Ohrringe. Zu einem Ereignis wie diesem Juwelen zu tragen, vor allem Diamanten, wäre völlig unangebracht gewesen.
In ihrer trauten Viersamkeit wirkte die amerikanische Familie wie eine eingeschworene Gemeinschaft. In diesem Augenblick vermisste Sophie ihre eigenen Kinder so sehr, dass es sich anfühlte, als stieße ihr jemand einen Dolch ins Herz.
Ein kalter Wind fegte über den Vorplatz und brannte ihr in den Augen. Sie blinzelte ein paarmal, weil sie nicht wollte, dass ihre Wimperntusche durch die Tränen verschmierte. Dann stellte sie den Kragen ihres Mantels auf und drehte sich mit dem Rücken zum Wind. Am Seiteneingang zum Palast stand der Lieferwagen eines Caterers. Sie waren ganz schön spät dran. Die weiß beschürzten Kellner rannten hektisch hin und her, schoben schwere Wagen durch den Lieferanteneingang in das Gebäude und sprachen aufgeregt miteinander.
Sophie zitterte, als sie endlich die Garderobe erreichte. Es gab nur wenige Orte, die sich so kalt anfühlten wie Den Haag während eines Wintersturms. Die Stadt lag unterhalb des Meeresspiegels. Sie war auf Land gebaut, das der eiskalten Nordsee abgetrotzt worden war, und wurde von Deichen umschlossen. Während eines Sturms fühlte es sich an, als wenn die Natur versuchte, sich zurückzuholen, was ihr gehörte. Der Wind war scharf wie eine Messerklinge und fuhr einem bis in die Knochen. In Den Haag gab es ein Sprichwort: Wenn ich aufrecht im Wind stehen kann, kann ich auch in ihn hinausgehen.
Widerstrebend zog Sophie ihre butterweichen Rehlederhandschuhe aus und gab der Garderobiere ihren langen Kaschmirmantel. Die Marke mit der Nummer 47 steckte sie in die Tasche ihres Kleids. Als sie sich den Rock glatt strich und sich dann zum Eingang umdrehte, merkte sie, dass die Frau des Attachés sie beobachtete. In ihren Augen entdeckte sie einen Hauch Neid und Bewunderung.
Sophie hatte den halben Tag darauf verwendet, sich zurechtzumachen. Ihr Designerkleid und ihre Schuhe kosteten zusammen mehr als ein Möbelstück. Das Kleid passte ihr hervorragend. Auf dem College war sie Langstreckenschwimmerin gewesen, und sie nahm immer noch an Wettbewerben teil – das half ihr, in Form zu bleiben. Ihre blonden Haare waren zu einem schlichten Chignon zusammengefasst. Bijou, ihre Stylistin, behauptete, sie sähe genau aus wie Grace Kelly. Eine Schauspielerin – das passte. Ihr Job bestand zu einem großen Teil aus Image und Auftreten. Schall und Rauch.
Sie lächelte der Frau des Attachés zu und verspürte einen Anflug von Ironie.
Beneiden Sie mich nicht
, wollte sie sagen.
Sie haben Ihre Familie dabei. Was kann man mehr wollen?
Nachdem sie durch den Metalldetektor gegangen war, schritt sie den offenen Säulengang zum großen Ballsaal hinunter. An der Tür wartete sie inmitten einer größeren Gruppe, bis sie dran war, angekündigt zu werden.
Auf Zehenspitzen reckte sie den Hals, um etwas sehen zu können. So viel ihrer Arbeit fand in dem Wolkenkratzer aus Glas und Stahl statt, in dem der Internationale Gerichtshof saß, dass sie oft die romantischen Ideale vergaß, die sie zu diesem Punkt in ihrer Karriere getrieben hatten. Aber hier, in diesem reich verzierten Palast, der von Arnie Carnegie ohne Rücksicht auf die Kosten gebaut worden war, erinnerte sie sich daran, dass dies ein Beruf war, von dem die meisten Menschen nur träumen konnten. Sie war Aschenputtel, aber ohne einen Prinzen.
Der Majordomus in seiner prächtigen Palastlivree beugte sich vor, um ihren Ausweis zu betrachten. Der Mann trug ein kleines Mikrofon am Revers, das per Kabel mit einem Ohrstöpsel verbunden war. „Sind Sie in Begleitung,
madame
?“
„Nein“, erwiderte Sophie. „Ich bin allein.“ Wer hatte in diesem Job schon Zeit für einen Prinzen?
„Madame Sophie Lindstrom Bellamy“
, verkündete er wohlklingend. „
Au Canada et aux Ètats-Unis.“
Aus Kanada und den Vereinigten Staaten – dank ihrer kanadischen Mutter und ihres amerikanischen Vaters
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