Was der Winter verschwieg (German Edition)
großzügiges Angebot.“
„Dieses Angebot haben wir nicht leichtherzig gemacht“, erwiderte Willem de Groot. „Ein Sitz am Ständigen Schiedsgerichtshof ist keine Belohnung für Ihre Taten. Er ist eine Anerkennung ihres Potenzials als Juristin.“ Er legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. „Diese freie Stelle kommt zu einem günstigen Zeitpunkt. Ich bin sehr erfreut, Ihnen diese Position anbieten zu können.“
Sophie nickte. Diese Beförderung war wie ein Jackpot. Ein Sitz am Ständigen Schiedsgerichtshofs brächte sie auf die richtige Spur, um eines Tages Richterin am Weltgericht zu werden – die höchste Stelle, die man im internationalen Recht erlangen konnte; die olympische Goldmedaille für ihre Leistungen. Sie würde nicht nur die Anerkennung ernten, sondern sich vielleicht sogar einen Platz in der Geschichte sichern. Sie hätte Einfluss auf die großen Fragen in der Welt.
In ihrem Kopf hörte sie den Fanfarenstoß des Triumphs. Sie hatte den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht, und der war höher als alles, was sie sich je erträumt hatte. Von diesem Sitz aus könnte sie die Welt ändern. Sie könnte ganzen Bevölkerungsgruppen helfen. Ihre Vorgaben und Entscheidungen würden Teil der Weltgeschichte werden.
Sophie spürte, wie Tariq neben ihr vor Stolz ein paar Zentimeter wuchs. Das hier war nicht nur ihr Erfolg, das wussten sie beide. Mit ihrer Ernennung an den Ständigen Schiedsgerichtshof würden ihre Mitarbeiter und Partner auch befördert werden. Diese Ernennung würde nicht nur ihr Leben und ihre Karriere verändern, sondern auch die Karrieren von allen, mit denen sie arbeitete. De Groot sprach jetzt zu Tariq, erklärte ihm seine zukünftige Rolle als Sophies Stellvertreter.
Ihre Gefühle flammten auf wie ein Feuer, in das man Brandbeschleuniger kippte. Doch genauso schnell, wie es aufgekommen war, wurde das Hochgefühl von der kalten Hand der Erinnerung gelöscht. Sie war als Geisel genommen worden. Sie hatte gesehen, wie Menschen umgebracht wurden. Sie hatte ein blutendes Kind in den Armen gehalten, hatte dafür gesorgt, dass Menschen in den Tod gestürzt waren.
Das war ihre Realität. Sie hatte lange und intensiv mit dem Behandlungsteam daran gearbeitet, die seelischen Wunden zu heilen, obwohl sie geschworen hatte, dass ihre Seele keine Heilung benötigte. Aber die Psychologen hatten darauf bestanden. Sie konnte vor dem, was geschehen war, weder fliehen noch weglaufen, aber dennoch könnte sie ein zielgerichtetes, ausgefülltes Leben führen – nicht
trotz
des Vorfalls, sondern vielleicht gerade
wegen
.
„Danke sehr“, sagte sie zu de Groot. „Ich fühle mich sehr geehrt.“ Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und sah dem obersten Richter geradewegs in die Augen. „Aber ich kann nicht.“
Die Worte hallten kalt von den Wänden wider.
Ich kann nicht.
Diese drei Worte waren schon vor langer Zeit durch Sophies Vater aus ihrem Vokabular verbannt worden. Sie war dazu erzogen worden, immer und aus vollem Herzen „Ich kann“ zu sagen.
Ich kann einen korrupten Diktator stürzen. (Aber nur, wenn ich in ein Land ziehe, in dem mich ein Weltmeer von meinen Kindern trennt und ich achtzehn Stunden am Tag arbeite.)
Ich kann entkommen, wenn ich von Terroristen entführt werde. (Aber nur, wenn ich mich zwinge, etwas zu tun, was mich für den Rest meines Lebens verfolgen wird.)
Ich kann die jüngste Juristin sein, die je an den Ständigen Schiedsgerichtshof berufen wird. (Aber nur, wenn ich mich auf der Stelle in einen Roboter verwandle.)
Das war es, was ihre Eltern nicht sahen. Für jedes „Ich kann“, das ihre Unverwundbarkeit demonstrierte, musste sie ein riesiges und entsetzliches Opfer bringen.
Sophie war ganz ruhig und konzentriert. „Ich habe intensiv über Ihr Angebot nachgedacht“, sagte sie und wiederholte dann noch einmal ihre Entscheidung. „Ich werde die Stelle nicht annehmen.“ Scharf hörte sie Tariq einatmen und zwang sich, ihn nicht anzusehen. Sie wusste, dass er sie fassungslos anstarrte, als wäre ihr mit einem Mal ein zweiter Kopf gewachsen.
Die alte Sophie hätte diese Chance ergriffen, sich den Messingring des Richteramts überzustreifen. Doch die neue Sophie, die Sophie, die eine schlimme Geiselnahme überlebt hatte, wusste, dass das Ansehen und die Aufregung dieser einmaligen Gelegenheit nicht länger ihre Berufung waren.
Seit dem Ende der Intensivtheraphie fühlte sie sich wie ein anderer Mensch. Vielleicht war das Ziel all dieser
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