Was der Winter verschwieg (German Edition)
wenig Platz ein. Sie hatte die Wohnung möbliert gemietet, sodass sie eigentlich nur ihre Garderobe, ein paar Bücher und einige gerahmte Bilder von den Kindern einpacken musste. Als sie sich jetzt so umschaute, verspürte sie auf einmal eine leichte Unsicherheit. Doch es war eine andere Angst als die, die sie bei der Geiselnahme empfunden hatte. Was, wenn sie versagte? Was, wenn es zu spät war?
Sie nahm das Porträt ihrer beiden Kinder von der Wand und musterte ihre Gesichter. „Als Greg und ich uns haben scheiden lassen, habe ich sie angefleht, bei mir zu leben“, sagte sie. „Ich wünschte, das hätte geklappt.“
„Sie haben es ja nicht mal richtig versucht“, warf Tariq ein.
Sophie erinnerte sich an die zwei elenden Wochen zurück. Ihre Kinder in dem Hochhaus mit Blick auf das holländische Flachland, wo der Regen nie wirklich aufzuhören schien. Die Sonne war in der Zeit nicht ein einziges Mal herausgekommen. „Ich habe keinen Sinn darin gesehen, das Unvermeidliche weiter hinauszuzögern“, sagte sie. „Und ich wollte für meine Karriere nicht noch mehr von ihrem Glück opfern. Sie wollten bei ihrem Vater leben. Also gab es keine zwei Meinungen. Auf der einen Seite gab es mich, die in ein fremdes Land gezogen war, um dort bei Gericht zu arbeiten. Auf der anderen Seite war Greg, der entschieden hatte, einen auf Andy of Mayberry zu machen …“
„Andy wer?“
„Einer von Amerikas größten Fernsehhelden. Ein alleinerziehender Vater aus einer alten Sendung. Er wohnt in einer amerikanischen Kleinstadt, geht mit seinen Kindern angeln und lebt dieses idyllische Bilderbuchleben in einer Stadt, in der immer Herbstlaub zu Boden segelt und es niemals regnet. Kein Wunder, dass Max und Daisy bei ihrem Dad bleiben wollten.“ Sorgfältig legt sie einen Pullover zusammen und richtete die Nähte ganz gerade aus.
„Was war mit deinen Wünschen?“, forderte Tariq sie heraus.
„Direkt nach der Scheidung war ich so verwirrt, dass ich gar nicht wusste, was ich wollte. Du erinnerst dich sicher noch, was für ein Häufchen Elend ich war. Die Scheidung hat mich alles an mir infrage stellen lassen, vor allem meine Fähigkeiten als Mutter. Ich hatte nicht die besten Vorbilder, wie du weißt. Aber endlich habe ich eine klare Vorstellung davon, was ich will, und genau darum geht es hier. Ich gebe mir eine zweite Chance, es besser zu machen.“ Sie legte noch drei Pullover zusammen.
„Aber warum dort? Warum in dieser kleinen Stadt im Nirgendwo?“
„Weil meine Kinder dort sind. Ich muss mich außerdem mit der Tatsache auseinandersetzen, dass mein Mann eine Frau geheiratet hat, die genau das Gegenteil von mir ist.“
Er zuckte mit den Schultern. „Das kommt vor.“
„Du bist mir eine große Hilfe.“
„Du willst meine Hilfe doch gar nicht. Du willst dich auf dem Altar der Schande opfern und dich so lange geißeln, bis du blutest. Und übrigens, ich kenne ein paar Männer, die dafür bezahlen würden, dir dabei zusehen zu dürfen.“
„Sei nicht so eklig.“ Sie schloss den Reißverschluss einer ihrer Taschen. „Dadurch, dass ich gehe, bekommst du deinen Traumjob.“
„Ich hätte aber lieber dich.“ Er breitete die Arme aus.
„Du bist nicht eklig“, sagte sie, als er sie in eine feste Umarmung zog. „Du bist der Beste. Du bist der einzige Mensch, den ich vermissen werde. Und zwar höllisch.“
„Ich weiß.“
Sie presste ihre Wange gegen das weiche schottische Kaschmir seines Pullovers. „Ich habe Angst“, flüsterte sie bei dem Gedanken daran, was sie in Avalon erwartete – die gescheiterte Ehe mit Greg und ihre unzureichenden mütterlichen Fähigkeiten.
„Ich kann es dir nicht verdenken, meine Blume.“ Beruhigend streichelte er ihr übers Haar. „Eine Kleinstadt in Amerika würde mir auch Angst machen. Ich sehe die ganze Zeit karierte Holzfällerhemden und Pick-up-Trucks mit riesigen Rädern vor mir.“
Sie entzog sich seiner Umarmung und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Ach, komm schon, so schlimm ist es gar nicht.“
Aber das könnte es werden, gestand sie sich heimlich ein. Sie war keine Expertin, sie hatte immer in großen, geschäftigen Städten gelebt – Seattle, Boston, Tokio, New York, Den Haag. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in einer Stadt wie Avalon zurechtkommen würde. Aber sie musste zu ihrer Familie zurück. Sie war von dem gleichen Gefühl ergriffen, das sie sonst nur von wichtigen Fällen kannte. Sie musste sich die Dinge zurückholen, die sie durch ihre
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