Was der Winter verschwieg (German Edition)
angenommen worden. Mein Portfolio wurde akzeptiert, und der Kurs geht in ein paar Wochen los. Ich werde mich allerdings schrecklich schuldig fühlen, dich allein zu lassen. Max und ich waren als Kinder sehr oft allein. Moms Arbeit hat ihr keine andere Wahl gelassen. Ich frage mich, ob sie sich auch so gefühlt hat. So schrecklich schuldig …“
„Hey, Daisy!“ Zwei Etagen unter ihr stand Sonnet Romano und winkte. „Komm runter. Sie wollen gleich die Torte anschneiden.“
„Lass sie nicht ohne mich anfangen“, rief Daisy ihr zu.
„Brauchst du Hilfe?“
„Nein, schon okay. Ich bin gleich da.“
Ninas Tochter Sonnet war die erste Freundin, die Daisy nach der Scheidung und ihrem Umzug nach Avalon gefunden hatte. Sie war der erste Mensch nach ihrem Vater, dem Daisy von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte. Jetzt waren Daisy und Sonnet Stiefschwestern. Sie hoffte, dass das nicht das Ende einer wundervollen Freundschaft bedeutete.
„Hörst du das?“, fragte sie Charlie, während sie ihre Kamera in die Windeltasche steckte, die sie immer bei sich trug. „Torte! Ich liebe Torte.“ Einer der Vorteile des Stillens war, dass man alles essen konnte, was man wollte – Kuchen, Erdnussbutter, Keksteig –, ohne zuzunehmen, weil die Milchproduktion so viele Kalorien verbrauchte.
Sie schnallte das Baby in der Trage fest und verließ das Zimmer. Die Flure und Treppen im Hotel lagen unter freiem Himmel, und eine warme Brise wehte ihr entgegen, die den Duft exotischer Blumen mit sich brachte. Hier in den Tropen schien der Winter Millionen Meilen weit weg zu sein.
Am Fuß der Treppe ging sie in Richtung Rezeption, blieb aber stehen, als sie Max auf sich zurennen sah.
Ein Blick ins Gesicht ihres Bruders reichte, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Nun, was auch immer es war, sie würden auf keinen Fall ihren Dad damit belästigen. Nicht an diesem besonderen Tag.
4. TEIL
Drei Wochen später
ENTSCHEIDUNG
Alles, was du seit dem Tag deiner Geburt gemacht hast, hast du getan, weil du etwas erreichen wolltest.
Andrew Carnegie, Stifter des Friedenspalasts in Den Haag
7. KAPITEL
Den Haag, Holland
Drei Wochen später
W ährend sie im Innenhof des Friedenspalasts auf Tariq wartete, ging Sophie nervös umher und wartete darauf, dass die Flashbacks sie wie aus heiterem Himmel heimsuchen würden. Das Team, das ihre posttraumatische Störung behandelte, hatte ihr erklärt, dass sie damit rechnen müsse, an diesem Ort von verstörenden Erinnerungsfetzen heimgesucht zu werden. Aber bisher passierte nichts. Nicht einmal, als sie daran dachte, wie André auf sie zugestolpert und dann blutend im Schnee zusammengebrochen war. Sie verspürte große Trauer, ja, aber keine Panik, keine Furcht. Der Himmel war grau. Die neugotischen Wände des Palasts, die von Alter und Staub leicht verschmutzt waren, sahen noch genauso aus wie immer – auf kühle Art schön und undurchdringlich.
Sophie war in den vergangen Wochen schon öfter hier gewesen, weil ihre Ärzte sicherstellen wollten, dass dieser Ort keine traumainduzierte Reaktion auslöste. Im Gegenteil, sie fühlte nichts außer der bis in die Knochen dringenden Feuchtigkeit eines typischen Wintertages.
Das Display ihres Smartphones zeigte eine Textnachricht, die Max am Tag zuvor gesendet hatte.
Dad nimmt uns heute mit zum Skifahren am Mount Saddle. Wünschte, du wärst hier. Xoxoxo.
Sie schaute auf die Uhr, die sie bereits auf die Zeitzone ihrer Kinder eingestellt hatte. Es war noch ein wenig zu früh, um in den USA anzurufen. Sie würde sich später, nach ihrem Meeting, bei ihnen melden und von ihren Plänen erzählen.
Einen Moment später gesellte Tariq sich zu ihr. Sein modischer Burberry-Mantel wirbelte im Wind. Wie Sophie wurde er von Sicherheitsagenten bewacht, an deren stete Anwesenheit sie sich in den letzten Tagen beinahe schon gewöhnt hatte.
„Du siehst erstaunlich ruhig aus“, bemerkte Tariq.
Zusammen machten sie sich auf den Weg zu ihrem Treffen beim Kammergericht. Sophie musterte Tariq mit leicht gerunzelter Stirn. „Warum sagst du ‚erstaunlich ruhig‘? Warum nicht einfach nur ‚ruhig‘?“
„Nach allem, was du durchgemacht hast, würde es dir niemand übel nehmen, wenn du nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude setzt.“
„Ich schwöre dir, wenn ich diesen Satz noch ein einziges Mal höre.
Was du durchgemacht hast …
Und was ist mit dir? Du hast das Gleiche erlebt.“
Er wischte ihren Einwand beiseite. „Ich habe schon mehr überlebt als eine
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