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Was der Winter verschwieg (German Edition)

Was der Winter verschwieg (German Edition)

Titel: Was der Winter verschwieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Wiggs
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blutige Nase. Außerdem ziehe ich es vor, einen solchen Überfall im Zustand der Bewusstlosigkeit zu erleben.“ Er blieb in dem Säulengang stehen und berührte ihren Arm. „Ich wünschte, dir wäre genauso viel erspart geblieben wie mir.“
    Drei Wochen waren seit dem Vorfall vergangen. So nannte man die Ereignisse vom Dreikönigstag inzwischen –
den Vorfall
. Oder den Epiphanias-Vorfall, wie die Auslandskorrespondenten ernst sagten. Die Londoner
Times
hatte es
Das Massaker des Zwölften Tages
genannt. Aber es gab keinen Begriff, der das Entsetzen und die Hilflosigkeit dieses Abends beschreiben konnte, und so wurde
Der Vorfall
schließlich zum Codewort für alles, was sich nicht ausdrücken ließ.
    Sophie war in besagter Nacht nur knapp dem Tode entkommen. Bis auf die Haut durchnässt und vollkommen taub, ohne jegliches Gefühl. Die Ärzte erklärten ihr später, dass eine Unterkühlung solche Symptome hervorrufen konnte. Ihr Körper wurde taub, um sich vor Schäden und Schmerzen zu schützen. Auf gewisse Weise genauso wie ihr Geist. Die Erinnerungen an ihr Martyrium waren nur noch bruchstückhaft vorhanden. Manchmal kehrten sie als Furcht einflößende Albträume zurück. Die Schwerelosigkeit des freien Falls, als der Lieferwagen durch die Luft getrudelt war. Der Aufschlag auf dem Wasser, bei dem ihre Zähne so zusammenschlugen, dass sie sich auf die Zunge biss und ihr Kopf nach hinten gerissen wurde. Die Luft war mit Schreien und Heulen erfüllt, Geräuschen, die mehr tierisch als menschlich klangen. Wasser flutete den Lieferwagen von vorne nach hinten, und Sophie fühlte, wie sie nach unten gezogen wurde. Ihre Entführer hatten sich nicht die Mühe gemacht, Sicherheitsgurte anzulegen.
    Das Ermittlungsteam spekulierte, dass sie durch ein gebrochenes Fenster hinausgeklettert war, worauf die Kratzer und Schnittwunden an ihren Armen und Beinen hindeuteten. Glück und Können hatten sie überleben lassen – ihr Schwimmtraining hatte sich als wahrer Segen erwiesen. Sie hatte nur eine vage Erinnerung daran, geschwommen zu sein – eisiges Wasser; Licht, das auf der Wasseroberfläche tanzte und ihr einen Anhaltspunkt bot, wohin sie sich wenden musste; der Kampf, sich nicht von dem Sog des untergehenden Wagens mitziehen zu lassen. Öliges Seewasser, das ihr in Mund und Nase strömte und sie würgen ließ, während sie sich an einen Eisenring klammerte, der in die Seitenwand des Kanals eingelassen war.
    Eine weitere Erinnerungslücke. Irgendwie hatte sie sich zum Klang von heulenden Sirenen und dem pulsierenden Dröhnen des Hubschrauberrotors aus dem Wasser ziehen können. Überall auf der Brücke hatten Rettungswagen gestanden, aber niemand schien sie zu bemerken. Es war, als wäre sie unsichtbar. Vielleicht war sie das. Sie erinnerte sich, gedacht zu haben, dass sie vielleicht tot war und sie deshalb niemand sah, als sie zwischen Streifenwagen und Ambulanzen herumirrte.
    Ein großer Vorteil, wenn man für so eine mächtige Organisation arbeitete, war die strikte Informationskontrolle. Nur ein paar Leute wussten, dass Sophie als Geisel genommen worden war. Noch weniger waren darüber informiert, wie sie hatte entkommen können. Und niemand wusste, dass sie es war, die den Lieferwagen von der Brücke hatte stürzen lassen. Niemand, außer den Terroristen, die lebend aus dem Voorhaven gezogen worden waren. Und die schwiegen.
    Um einer möglichen Vergeltung vorzubeugen, wurde ihr Name vollkommen aus allen Berichten herausgehalten, die an die Presse weitergegeben wurden.
    „Ich
bin
verschont worden“, sagte sie zu Tariq. In ihrer Stimme schwang ein wütender Unterton mit. „Immerhin bin ich hier oder etwa nicht?“
    „Tut mir leid“, erwiderte Tariq. „Ehrlich, meine Blume, ich will nur sichergehen, dass es dir gut geht.“
    Sophies Eingriff im Lieferwagen hatte dem Vorfall ein wirksames Ende gesetzt. Drei ihrer Geiselnehmer waren ertrunken. Drei andere hatten gerade so überlebt und erholten sich schwer bewacht im Krankenhaus.
    Die Menschen schauten Sophie an und staunten, dass sie „unbeschadet“ davongekommen war. Äußerlich sah man ihr die Qualen, die sie erlitten hatte, nicht an.
    Sie hatte nur kleinere Kratzer davongetragen, ein paar Prellungen und eine leichte Unterkühlung. Das Team am Bronovo Krankenhaus hatte sie gewarnt, dass sie eventuell unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden würde, auch wenn alle Tests zeigten, dass ihre Seele den Vorfall anscheinend heil überstanden hatte. Ganz

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