Was der Winter verschwieg (German Edition)
Sophie, rief sie sich zur Ordnung. Beinahe trotzig nahm sie ihr Handy und wählte Daisys Nummer.
Dieses Mal ging Daisy sofort ran. „Mom“, sagte sie. „Hey. Ich hatte gesehen, dass du vorhin schon mal angerufen hast, aber da hatte ich mein Telefon nicht dabei.“ Wie immer klang sie sehr vorsichtig. Freundlich, aber zurückhaltend. Für diesen Ton, erkannte Sophie, war sie selbst verantwortlich. Sie hatte Daisy beigebracht, in ihrer Nähe vorsichtig zu sein, sich zu wappnen, dass Sophie wieder einmal zu spät oder gar nicht kommen würde, ein Hockeyspiel oder einen Schwimmwettkampf verpassen, eine Kunstausstellung oder eine Eltern-Lehrer-Konferenz nicht besuchen könnte. Kurz, sich damit abzufinden, dass ihre gesamte Kindheit ohne ihre Mutter stattfand. Sophies Kinder hatten gelernt, nichts von ihrer Mutter zu erwarten. Sie hatte sich eingeredet, mit den richtigen Nannys und Haushaltshilfen würden die Kinder sie überhaupt nicht vermissen. Es hatte sie viele Jahre, eine schmerzhafte Scheidung und schließlich einen internationalen Vorfall gekostet, damit Sophie erkannte, wie viel sie tatsächlich verpasst hatte.
„Hey, Liebes“, sagte Sophie. „Ich bin gerade angekommen. Ich bin jetzt in Avalon.“
„Ich wusste gar nicht, dass du so früh kommst, Mom. Ich nahm an, du würdest in der Stadt bleiben, bis der Schneesturm vorüber ist.“
„Ich war zu ungeduldig, um noch länger zu warten. Ich würde sofort zu dir kommen, wenn die Straßenverhältnisse ein wenig besser wären.“
„Steig bloß nicht ins Auto. Das ist zu gefährlich. Hast du dich im Apple Tree einquartiert?“
Sophie war regelmäßig nach Avalon gekommen und dann immer im Apple Tree Inn geblieben, einem luxuriösen Bed & Breakfast in der Nähe der Altstadt. „Nein. Ehrlich gesagt habe ich Neuigkeiten. Ich bin in der Hütte der Wilsons an der Lakeshore Road.“
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. „Ich verstehe nicht, Mom.“
„Ich muss dir so viel erzählen, Daisy. Und ich kann es kaum erwarten, das Baby zu sehen.“ Charlie war im vergangenen Sommer auf die Welt gekommen. Zum Glück hatte Sophie bei seiner Geburt dabei sein können. Zu sehen, wie ihre Tochter ein Kind zur Welt brachte, war überwältigend gewesen – und ihren Enkel im Arm zu halten noch viel mehr. Seitdem war sie viermal zu Besuch gewesen. An diesem einen Abend in Den Haag hatte sie erkannt, dass das nicht reichte.
Das Handy fest ans Ohr gedrückt, trat Sophie ans Fenster. Sie schaute über den See hinaus, der ein Bild kalter, weißer Schönheit bot. Es war wie eine Szene aus einem Märchenbuch, mit Schneepalästen und Eisstatuen, eine eigene Welt voll glitzernder Pracht, so unbewohnbar, wie sie schön war.
„Ich bin schon gestern Abend angekommen“, erklärte sie. „Ich bin mit dem Auto vom JFK hergefahren.“
„Das ist verrückt, Mom. Dir hätte wer weiß was passieren können.“
Sophies Lippen zuckten kaum merklich. „Mir geht’s gut. Aber ich hätte gewartet, wenn ich gewusst hätte, dass ich eingeschneit werde.“
„Ist sonst alles okay?“, wollte Daisy wissen. „Hast du was zu essen? Eine Heizung?“
„Ich habe hier alles, was ich brauche, aber solche Sehnsucht, dich zu sehen. Die Straßen auf dieser Seite des Sees sind jedoch in einem fürchterlichen Zustand.“
„Das ist der Seeeffekt.“
„Nun gut. Sobald die Straßen frei sind, komme ich dich besuchen.“
„Abgemacht.“
Sophie hörte einen leicht gereizten Unterton in der Stimme ihrer Tochter. „Rufe ich gerade zu einem ungünstigen Zeitpunkt an?“
„Äh, nein. Aber … ich habe Besuch.“
„Oh! Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Ruf mich später an. Ich will alles über Charlie und dein neues Haus hören …“ Im Hintergrund hörte sie ein männliches Lachen, gefolgt von kleinen Babyjuchzern.
Okay, dachte Sophie, ich verstehe. Ich habe Besuch, heißt, mein Freund ist da. „Ist das …“
„Logan“, sagte Daisy.
Logan O’Donnell. Sophie war nicht sicher, ob er Daisys Freund war oder nicht, auch wenn ihr definitiv lieber gewesen wäre, dass er es nicht war. Verwöhnt, reich, suchtgefährdet. Für einen potenziellen Schwiegersohn keine idealen Voraussetzungen.
„Ruf mich nachher mal an“, sagte sie.
„Mach ich, Mom. Versprochen.“
Nun, dachte Sophie, gar nicht schlecht für den Anfang.
Sie schaute auf die Uhr und versuchte es noch mal bei Max. Er hatte ein eigenes Handy, was für einen Zwölfjährigen ein wenig übertrieben wirkte, aber
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