Was der Winter verschwieg (German Edition)
genervt zu fühlen. Ihre Mom passte auf Charlie auf, und Daisy wollte das seltene Gefühl der Freiheit genießen. Außerdem würde sie Sonnet das erste Mal seit der Hochzeit ihrer Eltern auf St. Croix wiedersehen. Sie hatte keine Lust, sich von Zach die gute Laune verderben zu lassen. „Ich denke, es wäre schade, wenn ihr zwei es nicht schafft, eure Differenzen aus der Welt zu räumen.“ Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, um sein Tempo ein wenig zu drosseln. „Du darfst da drin nicht rauchen“, erinnerte sie ihn.
Er blieb neben einem grün gestrichenen Mülleimer stehen und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette. Daisy verurteilte ihn nicht fürs Rauchen. Wie sollte sie auch. Bevor sie Charlie bekommen hatte, hatte sie viel Schlimmeres gemacht.
„Alles wird gut“, versicherte sie ihm.
„Hast du ihr gesagt, dass ich hier sein werde?“
„Ich habe ihr eine SMS geschickt. Ich bin sicher, sie ist damit einverstanden.“ Eine glatte Lüge. Sonnet hatte ihr zurückgeschrieben: WAG ES JA NICHT!
Sie gingen durch die Wartehalle auf den Bahnsteig hinaus. Viele Leute kamen zum Winterkarneval nach Avalon. Die meisten waren Touristen aus der Stadt. Und Touristen anzuziehen war auch der Hauptgrund für dieses Fest, an dem der ganze Ort teilnahm. Daisy war die ganze Woche damit beschäftigt gewesen, Fotos von den Vorbereitungen zu machen. Die Hauptattraktion des diesjährigen Festivals war eine haushohe Eisskulptur in Form eines Schlosses. Rund um die Uhr würde es Livemusik von mehreren örtlichen Bands geben, deren Musikstil von Grunge bis zu einer deutschen Blaskapelle reichte. Dann gab es natürlich das Schlittschuhlaufen auf dem See, ein Eishockeyturnier, einen Wintertriathlon und alle möglichen Stände und Buden, die alles anboten – von Kinderschminken bis zu selbst gebackenen Kuchen.
Touristen und Einheimische standen gemeinsam auf dem Bahnsteig und schauten zu, wie der Zug einfuhr. Leute stiegen aus, und Daisy ließ auf der Suche nach Sonnets Markenzeichen – ihre eng am Kopf geflochtenen Zöpfen, mit denen sie in jeder Menge auffiel – den Blick über die Menge schweifen. Daisy liebte Sonnet mehr, als sie sagen konnte, und doch herrschte im Moment eine leichte Spannung zwischen ihnen. Sonnet war der Traum aller Mütter mit ihrem Vollstipendium an einer der renommiertesten Universitäten des Landes und ihrem untadeligen Ruf. Das alles war noch beeindruckender, weil sie von einer alleinerziehenden, schwer arbeitenden Mutter aufgezogen worden war – Nina Romano. Und auf der anderen Seite war da Daisy, ein verwöhntes Mädchen der Upper Eastside, ausgebildet auf Privatschulen; eine junge Frau, die all ihre Vorteile in den Wind geschossen hatte und selbst alleinerziehende Mutter geworden war. Und nun wollte Daisy auch noch die alte Freundschaft mit Zach wieder aufleben lassen. Sie war entschlossen, es Sonnet so lange zu erklären, bis die es verstand. Nach der Schule in einem Städtchen wie diesem zurückzubleiben und sich ein Leben aufzubauen, hieß für Daisy, ihre bestehenden Freundschaften zu pflegen, weil es hier nicht war wie auf dem Campus, wo Studenten hinter jeder Zimmertür im Wohnheim neue Freunde finden konnten.
„Ich habe meine Meinung geändert“, sagte Zach abrupt. „Ich gehe.“
Daisy packte ihn am Ärmel seiner dicken Jacke. „Ihr wart mal beste Freunde“, rief sie ihm in Erinnerung. „Ihr seid quasi zusammen aufgewachsen. Bedeutet das denn gar nichts?“
„Vielleicht hat es was bedeutet, bis mein Vater die städtische Kasse geplündert hat, als Sonnets Mutter Bürgermeisterin war.“
Daisy zuckte zusammen. Wenn er es so offen aussprach, musste sie anerkennen, dass es schwierig sein könnte, das hinter sich zu lassen. Eltern besaßen so eine unglaubliche Macht, ihre Kinder zu verletzen. Jeden Tag versprach sie Charlie, dass sie nie etwas tun würde, um ihm wehzutun, aber tat sie das nicht bereits, indem sie ihn ohne Vater aufwachsen ließ?
Inmitten einer Gruppe aussteigender Passagiere erspähte sie Sonnet, die einen großen Rollkoffer aus dem Waggon zerrte. Daisy rannte den Bahnsteig entlang zu ihr. Sonnet sah sie kommen und stieß einen Freudenschrei aus. Überglücklich fielen sie einander in die Arme und hielten sich ganz fest. Daisy wurde von einer Welle der Zuneigung für Sonnet erfasst. Sonnet, ihre beste Freundin. Ihre Schwester. So viel Gutes war dabei herausgekommen, dass Daisys Dad Nina geheiratet hatte.
In Daisys Armen fühlte sich Sonnet drahtig und zierlich an.
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