Was der Winter verschwieg (German Edition)
ist.“ Sie war immer noch verwirrt von dem Telefonat. Ihre Eltern hatten geglaubt, die perfekte, erfolgreiche Tochter aufzuziehen. Doch stattdessen gab es da nun diese unvollständige Frau, die so vieles in ihrem Leben bereute.
Nachdenklich musterte sie Noah. Sie war über sich selbst erstaunt. Wieso sprach sie mit ihm darüber? Weil sie in der kurzen Zeit, die sie einander kannten, gelernt hatte, sich auf ihn zu verlassen, wie sie sich noch nie auf jemanden verlassen hatte. Sie dachte über die Unterhaltung mit ihren Eltern nach. Die alte Sophie hätte sie für sich behalten und den Rest des Abends damit verbracht, darüber nachzudenken, ob sie wirklich das Richtige tat. Aber bei Noah verspürte sie die Sehnsucht, ihm Seiten an sich zu zeigen, die sie lange vor anderen verborgen hatte. Wenn sie in seine gütigen, teilnahmsvollen Augen schaute, empfand sie ein Vertrauen, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Er sollte den wahren Grund dafür erfahren, warum sie hier in dieser Stadt war und eine Karriere, deren Aufbau sie fünfzehn Jahre gekostet hatte, aufgegeben hatte. Er sollte wissen, dass sie nach etwas anderem gesucht hatte, an dem sie sich festhalten konnte. Dieser Drang war so stark gewesen, dass sie in diese fremde Stadt gezogen war, an einen Ort, an dem ihr Exmann eine Säule der Gemeinschaft war und sie als kalte, gleichgültige Exfrau angesehen wurde.
Sie sehnte sich danach, ihm ihre tiefsten Gedanken und Gefühle mitzuteilen – über jene Nacht, über die Dinge, die ihr zugestoßen waren, über die Angst, die sie auseinandergerissen hatte, und über den Lebenswillen, der sie wieder zusammengeflickt hatte. Sie wünschte, sie könnte ihm erzählen, dass es nichts anderes als den Gedanken an ihre Familie gegeben hatte, als sie gedacht hatte, sie müsste sterben.
„Findest du das schlimm, was ich gerade über meine Eltern gesagt habe?“, fragte sie.
„Nein. Jeder gelangt irgendwann an den Punkt, an dem er seine Eltern schließlich als Menschen sieht.“
„Sie glauben immer noch, dass ich nur vorübergehend hierbleibe. Sie leugnen, dass ich mich verändert habe. So ist es immer mit ihnen. Sie schaffen es, dass ich meine Entscheidungen hinterfrage. Egal, wie alt ich werde, ich habe immer noch das Bedürfnis, es ihnen recht zu machen.“ Sie atmete tief ein, gab ihm die Chance, etwas zu sagen, das Thema zu wechseln, schreiend wegzulaufen. Doch er tat nichts dergleichen, sondern wartete nur und hörte weiter zu.
Es lag etwas Unwiderstehliches in der Art, wie Noah zuhörte. Sophie verschränkte die Finger und sagte: „Als ich herausfand, dass ich mit Daisy schwanger war, hatte ich vor, sie alleine aufzuziehen. Meine Eltern haben diese Entscheidung so lange infrage gestellt, bis ich mir selber nicht mehr sicher war. Sie waren sehr überzeugend. Sie fanden es toll, dass Greg ein Bellamy war. Sie mochten es, dass er es beruflich weit bringen würde. Schließlich glaubte ich ihnen, dass es das Beste wäre, wenn ich es Greg erzählte und wir um des Babys willen heirateten. Und das haben wir dann auch getan. Mit reiner Willenskraft haben wir geschafft, dass es funktionierte, aber es fühlte sich nie richtig an.“ Sie drückte sich das Kissen fester gegen die Brust.
„Ich hatte diese beiden wundervollen Kinder, die nur wollten, dass ich für sie da war, und das war ich nicht. Selbst als ich noch für die UN in Manhattan gearbeitet habe, war ich immer irgendwo anders. Und wenn nicht körperlich, dann zumindest geistig. Ich frage mich heute oft, wie wohl alles gekommen wäre, wenn ich mehr an ihrem Leben teilgenommen hätte.“
„Weißt du“, warf Noah ein, „als ich ein Kind war, habe ich mir immer vorgestellt, mein Vater wäre Astronaut anstatt Milchbauer. Ich denke immer noch daran, wie anders mein Leben verlaufen wäre, wenn meine Eltern im Weltall gearbeitet hätten.“
Sie warf das Kissen nach ihm. „Sehr lustig.“
„Ich will dir damit nur deutlich machen, dass du nie erfahren wirst, wie alles gekommen wäre, wenn du etwas anders gemacht, einen anderen Weg eingeschlagen hättest. Du hast mich zwar nicht darum gebeten, aber ich gebe dir trotzdem einen Rat: Fang an, dich mit dem auseinanderzusetzen, was ist, und höre auf, zu versuchen, die Vergangenheit umzuschreiben.“
„Danke, Dr. Freud.“
„Ich schicke dir morgen eine Rechnung.“
Es war merkwürdig befreiend, mit Noah zu sprechen. Sein Blick auf die Situation war schlicht und schnörkellos. Ihr eigener Denkprozess hingegen glich
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