Was der Winter verschwieg (German Edition)
eher einem verwirrenden Flussdiagramm, in dem jede Entscheidung zu einer weiteren unüberschaubaren Flut an Möglichkeiten führte.
„Nein, mal im Ernst“, sagte er. „Versuch mal, dich nicht immer so viel infrage zu stellen. Weder was die Vergangenheit noch was die Gegenwart angeht. Oder mich.“ Er grinste.
Sie senkte den Blick. Wenn sie nur wüsste, was da zwischen ihnen war. Sie führten hier eine zutiefst persönliche Unterhaltung, und sie konnte nur daran denken, wie gut er schmeckte und wie atemberaubend er nackt aussah.
„Zu viel denken kann nicht gut für dich sein“, bemerkte er.
„Ich könnte meine Ausbildung dafür verantwortlich machen. In meinem Job am Internationalen Strafgerichtshof musste jeder Schritt, den ich tat, jede Entscheidung diskutiert und jedes mögliche Ergebnis prognostiziert werden. Das ist mir vollkommen in Fleisch und Blut übergegangen. Ich habe sogar mal ein Diagramm erstellt, um die richtige Sitzordnung für ein Abendessen unter Gerichtsmitarbeitern zu ermitteln.“
„Das ist aber nicht die einzige Art, durchs Leben zu navigieren.“
„Ach. Und wie machst du es?“
„Such dir ein Pferd aus, und reite los.“
„Wieder so einfach.“
„Es
ist
einfach, du musst es nur zulassen.“
„Noah Shepherd – tagsüber tierärztliches Genie, Zen-Philosoph bei Nacht. Okay, ich werde versuchen, deinen Rat zu beherzigen.“
Er nickte ernst. „Es gibt kein
versuchen“
, gab er leise zurück. „Es gibt nur
machen
oder
lassen
.“
„Du bist verrückt“, sagte sie.
„Ich weiß.“ Er rückte näher und küsste sie sanft auf den Mund. Zwischen zwei Küssen gestand er ihr: „Du hast mir dieses Wochenende gefehlt.“
Du mir auch.
Sie sagte es nicht, sondern entgegnete stattdessen: „Wir müssen damit aufhören.“
„Warum?“
„Weil es dumm ist, so impulsiv zu sein. Wir müssen einen Gang runterschalten, herausfinden, was das werden soll. Ich dachte, wir wollten das nicht mehr tun.“
„Falsch gedacht.“ Langsam knöpfte er ihr die Strickjacke auf. „Wir tun das hier bei jeder nur möglichen Gelegenheit.“
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“
„Du sollst ja auch nicht denken. Wenn du es doch tust, mache ich meinen Job hier nicht richtig.“
„Oh.“ Sie spürte, wie sie innerlich dahinschmolz. „Doch, du machst das ganz gut. Glaub mir, das ist … absolut ausreichend.“
Er lachte heiser, den Mund nah an ihren Lippen. „Gut. Ich mag deine Familie, Sophie, aber im Moment kann ich an nichts anderes denken als an dich. Ich
bin
verrückt. Ich kann meine Hände nicht von dir lassen.“
„Ich bin für meine Familie hierhergezogen“, erinnerte sie ihn. „Mit dir zusammen zu sein ist …“
„Damit nimmst du ihnen doch nichts weg.“ Er ließ die Strickjacke über ihre Arme gleiten und öffnete den BH. „Ab und zu solltest du den Büßerkittel auch mal ablegen.“
21. KAPITEL
D aisys Leben hatte sich verändert. Seit ihre Mutter ihr mit Charlie half, war manches auf eine Art einfacher geworden, die sie nicht erklären konnte. Allein zu wissen, dass ihre Mutter sich um Charlie kümmerte, sorgte dafür, dass Daisy sich erholter und entspannter fühlte. Sie war zwar immer noch nicht die Mutter des Jahres – in ihrem Haus herrschte die meiste Zeit das reinste Chaos, und sie hatte immer das Gefühl, zu irgendetwas zu spät zu kommen –, aber sie kam sich nicht mehr vor, als laufe sie vor einer Dampfwalze davon, die drohte, sie zu zermalmen, wenn sie auch nur eine Sekunde langsamer würde.
Insgeheim fragte sie sich, ob es wirklich an der Anwesenheit ihrer Mutter lag oder ob sie einfach immer besser mit ihrem Leben zurechtkam. Aber das war auch egal, darüber würde sie nicht weiter nachdenken. Vor allem nicht an diesem Tag. Der Winterkarneval stand vor der Tür, und in wenigen Minuten würde Sonnets Zug einfahren.
„Das ist eine ganz schlechte Idee“, meinte Zach Alger grimmig, als er gemeinsam mit Daisy zum Bahnhof ging. „Ich hätte nicht mitkommen sollen.“
„Unsinn.“ Sie schaute ihn an. Er wirkte angespannt. Sein glattes blondes Haar wehte hinter ihm her, als er schnellen Schrittes neben ihr herlief. „Du und Sonnet würdet euch früher oder später sowieso über den Weg laufen, also kann es genauso gut früher sein.“
„Sie und ich würden uns überhaupt nicht über den Weg laufen, wenn ich mich von dir nicht hierzu hätte überreden lassen. Das ist eine ganz schlechte Idee“, wiederholte er.
Daisy versuchte, sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher