Was der Winter verschwieg (German Edition)
antwortete sie.
Zach stand auf und griff sich das Seil von Julian. „Ich hab’s. Wir können hier eine Weile üben.“
Julian zeigte auf einen längeren, steileren Abschnitt und fragte Daisy: „Und, bist du bereit?“
„Sicher.“ Obwohl das Klettern für sie unglaublich anstrengend war, liebte sie dieses Gefühl von Freiheit, das sie nur hier draußen in der Natur erfuhr. Einige wenige kostbare Stunden lang dachte sie an nichts anderes als daran, mit ihren Freunden zusammen zu sein, den Ausblick zu genießen und Spaß zu haben. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so etwas gemacht hatte. Während der flüchtigen, gefährlichen Minuten des Kletterns war sie nur sie selbst, keine alleinerziehende Mutter, die einem nicht geplanten Kind zuliebe eine lebenslange Verpflichtung eingegangen war.
„Du bist ein einziges großes Lächeln“, sagte Julian, als sie sich oben auf dem Wasserfall zu ihm gesellte.
Sie setzte ihren Helm und Rucksack ab und nahm dankbar die Wasserflasche, die Julian ihr hinhielt. „Ich fange an, zu verstehen, wieso dir das hier gefällt.“ Ihr Lächeln schwand. „Allerdings hab ich auch ein schlechtes Gewissen. Jedes Mal, wenn ich Charlie bei jemand anderem lasse, fühle ich mich schrecklich.“
„Er schien sich bei Olivia aber sehr wohlzufühlen.“
„Ja, ich schätze schon.“ Sie holte ihre Kamera heraus. Die Wolken waren aufgebrochen und hatten einem Himmel Platz gemacht, den man nur im Winter sah – ein intensives Blau, das sich klar gegen das Weiß des Schnees und die im Schatten liegenden Berge abhob. Sie machte ein paar Aufnahmen und richtete die Linse dann auf Julian.
Er hielt einen Augenblick lang still, dann sprang er auf. „Ich will weiter hoch.“
Sie beschattete sich die Augen mit der Hand und lehnte sich zurück, um den restlichen Aufstieg zum Gipfel zu betrachten. Dieses finale Stück war schwindelerregend. Das Eis ging nicht vertikal nach oben, sondern bog sich über eine Reihe felsiger Klippen nach hinten. „Das sieht von hier ziemlich unmöglich aus.“
Er grinste. „Deshalb will ich da ja rauf.“
„Ich wünschte, du würdest es nicht tun.“
„Meine Spiderman-Sinne sagen mir, dass ich das schaff.“
Sie funkelte ihn an. „Ich werde deine letzten Augenblicke mit der Kamera festhalten.“
Das ließ ihn laut auflachen. „Tu das. Das ist bestimmt gut für deine Karriere.“ Er setzte Helm und Brille auf, prüfte das Sicherungsseil und machte sich an den Aufstieg über die Eissäulen. Daisy gelang es, seine Entschlossenheit mit der Kamera einzufangen. Eisbrocken und kleine Späne regneten auf ihn hinab. An einer Stelle hing er an einer Eisplatte, die so groß war, dass er wirklich aussah wie Spiderman, der mitten in der Luft hing. Daisy zoomte näher heran, ihr starkes Objektiv bot ihr einen detaillierten Blick auf seine Kletterkünste.
Und auf die extrem locker aussehende Klampe, auf der er stand. Das umliegende Eis fing schon an zu knacken und sich zu lösen.
„Du verlierst den Halt“, rief sie. „Julian, pass auf!“
Ihre Warnung kam in dem Moment, in dem das Eis nachgab. Julian grub die beiden Eisäxte ein und hing an ihnen, während die Klampe in einem Schauer aus Eis und Steinen hinunterfiel. Daisy stand wie erstarrt da, sprachlos vor Entsetzen. Julians Füße schwangen frei in der Luft; er wirkte hilflos. Sie eilte zu dem Seil, das ihn sicherte, und fand ihre Stimme wieder. „Julian, was soll ich tun?“ Sie klang hohl, die Worte hallten von den Wänden aus Eis und Stein wider.
„Mir geht’s gut“, keuchte er. „Mach dir … keine Sorgen.“
Sie hielt den Atem an und schaute zu. Mit der Spitze eines Steigeisens fand er Halt und klammerte sich einen Moment lang mit den Händen ans Eis. Sie sah, dass er erschöpft war. Dann hob er eine Axt und setzte seinen Aufstieg fort.
Aufstieg?
„Julian …“
„Ich komme von hier nicht runter.“ Er hatte ihre Gedanken gelesen. „Es ist sicherer, wenn ich weiter hochklettere.“
Sie wollte nicht zusehen, konnte aber auch nicht wegschauen. Der Aufstieg schien Stunden zu dauern, obwohl tatsächlich nur Minuten verstrichen. Ihr Herz zählte jede Sekunde. Mit einem Mal war ihr die Zerbrechlichkeit des Lebens schmerzhaft bewusst. Alles konnte sich im Bruchteil eines Wimpernschlags verändern. In einem einzigen Moment konnte ein Licht an- oder ausgeschaltet werden. Eine Entscheidung getroffen, ein Ei befruchtet werden. Ein Kletterer konnte abrutschen und in die Tiefe
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