Was Die Liebe Naehrt
dem Potenzial meiner eigenen Seele. Und so werde ich frei, diese Person so zu sehen, wie sie
wirklichist. Im Verliebtsein liebe ich letztlich mein eigenes Bild in der anderen Person. Von dieser Liebe gilt, dass sie blind
macht. Denn ich sehe nicht die Person, sondern mich selbst in ihr. Wenn ich die Projektion zurücknehme, dann werde ich fähig zur wirklichen Liebe. Und
dann bewährt sich auch die Liebe. Entweder ich spüre, dass ich durch das Verliebtsein nur geblendet wurde. Oder aber ich erlebe, wie mein Verliebtsein
sich in eine dauerhafte Liebe wandelt. In beiden Fällen aber bringt mich das Verliebtsein mit der Quelle der göttlichen Liebe in Berührung, die in mir
ist.
Eine andere Erfahrung macht dies ebenfalls anschaulich: Eine Ehefrau hat den Eindruck, dass die Liebe zu ihrem Mann sich erschöpft hat. Sie spürt in
sich keine Liebe mehr. Alles ist nur noch Routine. Die Liebe, die sie sich von ihrer Ehe dauerhaft erhofft hatte, hat sich verflüchtigt. Ich kann nun
darüber jammern oder ich kann betrauern, dass meine Vorstellung von Liebe nicht in Erfüllung gegangen ist. Das Jammern bleibt an der Oberfläche. Wenn ich
aber den Mangel an Liebe betrauere, dann komme ich in Berührung mit der Quelle der Liebe, die unterhalb der verloren gegangenen Gefühle in mir ist. Gerade
die Enttäuschung in meiner Liebe zum Ehepartner kann mich aufbrechen für die Liebe, die in mir ist. In dieser Liebe ist Gott selbst in mir. Die Worte aus
dem Johannesbrief sind nichts, wofür ich romantisch schwärmen könnte. Es sind vielmehr Worte, die mir einen Weg zeigen wollen, wie ich mit meiner
brüchigen und immer von Endlichkeit geprägten Erfahrung der Liebe im zwischenmenschlichen Bereich umgehen soll. Jeder von uns sehntsich
nach mehr Liebe, als ihm ein Mensch, sei es ein Freund, sei es der Ehepartner, sei es der Mitbruder oder der Arbeitskollege, je zu geben vermag. Nur durch
das Betrauern dieser Fragilität, dieser Begrenztheit und Endlichkeit werden wir in den Grund unserer Seele gelangen und dort eine tiefe Erfahrung machen
können: dass in uns die Quelle göttlicher Liebe strömt.
Neben der agape , von der Johannes spricht, kennen die Griechen noch andere Formen von Liebe: den eros , das ist die begehrliche Liebe, die
mich zum anderen hinzieht, oder die philia , die Freundesliebe, die sich am Freund freut, so wie er ist. Agape, die reine Liebe, ist letztlich die
göttliche Liebe. Sie ist mehr als Gefühl. Sie ist eine Kraft, eine Qualität des Lebens. Die Agape erlebe ich aber mitten in meiner erotischen Liebe
und mitten in der Freundesliebe. Sie ist die Quelle, die auch die anderen Formen der Liebe speist. Durch mein Verliebtsein, durch eine erotische
Liebe, durch die Liebe zu einem Freund oder einer Freundin komme ich also in Berührung mit der Quelle der göttlichen Liebe. Das Wissen darum entlastet
mich und verhindert, dass ich meine Liebe zu einem Menschen mit Erwartungen überfrachte. Ich kann mich dann an dem, was der andere mir an begrenzter Liebe
entgegenbringt, freuen. Denn sie muss mir nicht meine tiefste und letzte Sehnsucht erfüllen. Sie muss nicht alles für mich sein. Sie führt mich vielmehr
zur Quelle der Liebe, die in mir ist. Johannes spricht davon, dass die Liebe, die wir uns gegenseitig erweisen, auf die göttliche Liebe in uns verweist
und dass diese göttliche Liebe unsere menschliche Liebe vollendet, ganz macht, an ihr eigentliches Ziel bringt.
Eine neue Sicht der Liebe
Es ist eine revolutionäre Theologie der Liebe, die Johannes entfaltet: Liebe ist der Ort, an dem wir Gott selbst erfahren können. In
jeder menschlichen Liebe, auch wenn sie noch so brüchig ist, erfahren wir ihn. Ja mehr noch, in dieser brüchigen Liebe ist er in uns. Da kommen wir in
Berührung mit dem Gott, der in uns wohnt.
So möchte uns Johannes zum einen eine neue Sicht der Liebe vermitteln. Statt zu jammern über das, was unerfüllt bleibt in unserer konkreten
Liebeserfahrung, sollten wir uns von der begrenzten Liebe in die Quelle der unbegrenzten göttlichen Liebe führen lassen. Diese Sicht gibt unserer
brüchigen Liebe ihre Würde.
Auf der anderen Seite zeigt uns Johannes auch, wie unsere Liebe gelingen kann. Wenn wir nämlich aus der Quelle der göttlichen Liebe schöpfen, die nie
versiegt, verliert sich in uns die Angst, unsere Liebe könne versiegen, das Gefühl für den anderen werde sich verflüchtigen. Bei aller Brüchigkeit unserer
Liebe: diese Quelle
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