Was die Seele krank macht und was sie heilt
Gewissen durch die Bindung an die Gruppe auferlegt. Es folgt einem verborgenen, in den Dingen liegenden Gesetz, und die Gegenwart dieses Guten ist nur an der Wirkung erkennbar.
Das Sippen- oder Gruppengewissen
Jene Gruppe, aus deren Mitte wir hervorgegangen sind, ist unausweichlich und schicksalhaft mit uns verbunden. Was andere in der Gruppe erlitten oder verschuldet haben, wird durch ein besonderes Gewissen, das Sippen- oder Gruppengewissen, für uns als Anspruch oder Verpflichtung spürbar, wenn auch meist unbewußt. Somit ist das unmittelbar erfahrbare persönliche Gewissen vom meist unbewußt wirkenden Gruppengewissen zu unterscheiden. Das persönliche Gewissen wird direkt als Lust und Unbehagen spürbar, wenn zum Beispiel eine fremdgehende Frau ihrem Mann in die Augen schaut und ihn belügt. Das Sippengewissen dagegen wird nicht gefühlt.
Das individuelle Gewissen bezieht sich auf die mit uns direkt verbundenen Personen wie Partner, Kinder, Eltern, Geschwister, Freunde und könnte auch als vordergründiges Gewissen bezeichnet werden. Es wird zwar unmittelbar von uns gefühlt, ist aber dem Gruppengewissen untergeordnet, und oft verstoßen wir sogar gegen das Gruppengewissen, indem wir dem persönlichen Gewissen folgen.
Das Gruppengewissen ist ein verborgenes, ein hintergründiges Gewissen. Es ist der Ordnungs- und Gleichgewichtssinn für alle Mitglieder einer Sippe, der jedes Unrecht an früher oder später Geborenen ahndet und ausgleicht, selbst dann, wenn diese voneinander nichts wissen und unschuldig sind. Dieses Gewissen nimmt sich der Ausgeschlossenen an, bis auch sie in unserem Herzen einen Platz finden. Wenn die Früheren selber ein Unrecht getan haben, wollen Spätere die Folgen auf sich nehmen und anstelle der Früheren aus-gleichen. Somit werden sie durch das Gruppengewissen in fremde Schuld und Unschuld und auch in fremdes Denken und Fühlen verstrickt. Alle Ausgestoßenen, Verkannten, Vergessenen und unter schlimmen Umständen Verstorbenen sind auf diese Weise mit uns verbunden.
Eine Frau, die schon einmal in der Psychiatrie war, berichtete mir, sie fühle sich von Zeit zu Zeit, »als ob mich etwas in den Abgrund ziehe«. In ihrer Familie gab es mehrere Selbstmörder. Schon mit normalen Gedankengängen läßt sich nachvollziehen, daß Selbstmorde - auch wenn sie schon einige Zeit zurückliegen - eine Wirkung auf die Familie ausüben. Doch in der Systemischen Psychotherapie Bert Hellingers geht die Bedeutung solcher Ereignisse über eine allgemeine psychologische Einschätzung hinaus. Die liebende Erinnerung und Würdigung der Toten kann in besonderen Fällen das Leben eines psychisch Kranken vollkommen zum Guten verändern.
Wer gehört zur Sippe?
Das Sippengewissen gibt allen das gleiche Recht auf Zugehörigkeit, und es nimmt wahr, wenn ein Angehöriger ausgeschlossen wird. Es wacht in einem viel umfassenderen Sinn über die Bindung als das persönliche Gewissen. Folgende Personen gehören zum Familiensystem:
- das Kind und seine Geschwister und Halbgeschwister, auch tote und totgeborene Geschwister,
- Eltern,
- Geschwister der Eltern, auch tote und totgeborene, sowie unehelich geborene und Halbgeschwister,
- Großeltern,
- manchmal der eine oder andere der Urgroßeltern, wenn es sich um ein außergewöhnlich schweres Schicksal gehandelt hat, zum Beispiel Mord,
- alle Personen, die für einen der Erwähnten Platz gemacht haben, wie frühere Ehepartner oder eheähnliche Partner von einem selber, von Eltern und Großeltern,
- alle, deren Weggang oder Unglück anderen Personen den Zugang zu dieser Gruppe ermöglicht haben oder ihnen sonst einen Vorteil verschafften.
Eine verheiratete Frau lernt beispielsweise einen Mann kennen und sagt dem Ehemann: »Ich will nichts mehr von dir wissen. Ich verlasse dich.« In der Folge bekommt die Frau von dem neuen Mann einen Sohn. Dieser Sohn vertritt den verlassenen ersten Mann. Er entwickelt seiner Mutter gegenüber jene bösen Gefühle, die der Verlassene gegenüber der Frau hat, oder er wird sich mit der gleichen Wehmut von der Mutter zurückziehen, wie dieser sich von ihr zurückgezogen hat. Dies geschieht auch dann, wenn das Kind nichts von der Existenz des früheren Mannes weiß. Selbst die Eltern durchschauen in der Regel diesen Zusammenhang nicht.
Der schlimme Ausgleich
Die früher Geborenen sind den Späteren vorgeordnet, weshalb es einem Späteren nicht zusteht, die Schuld eines Früheren zu sühnen oder dessen Recht nachträglich
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