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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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dass es Hoschild’s geheißen hätte, war abgerissen worden, die Wände fehlten, nur noch die Rolltreppen davor standen. Diese beförderten die Besucher zu einer
asiatischen Imbissabteilung einen Stock höher. Viele Asiaten mussten wohl hier in der Gegend wohnen, denn über dem südlichen Ende der Mall prangte ein Schild mit dem Namen Seoul Plaza. Kay stimmte dies hoffnungsvoll; es war ein Zeichen dafür, dass Neues ganz selbstverständlich in den Alltag integriert wurde.
    Sie überlegte, wie die Mall wohl auf Heather wirkte.
    »Man konnte das Karmelkorn schon von hier aus riechen«, sagte Heather gerade. »Der Duft zog durch den gesamten mittleren Bereich. Dort wollten wir uns damals treffen.«
    Heather setzte sich mit gesenktem Haupt in Bewegung, als ob sie geheimen Hinweisen folgte. Als sie im Atrium der Mall ankam, bog sie nach rechts ein. »Der Orgelladen war hier, neben dem Buchladen. Die Nähutensilien – bei Singer, nicht Jo-Ann – waren in der anderen Richtung, ebenso wie das Harmony Hut. Wir sollten unseren Vater beim Bioladen treffen, bei GNC um halb sechs. Er kaufte dort immer Hefe und Sesamriegel. Damals war es schön hier. Voller Leute, festlich.«
    Es war fast so, als ob sich Heather auf einen Test vorbereitete und dafür das Gelernte herunterbetete. Aber wenn sie Heather Bethany war, warum sollte sie sich dann um die richtigen Antworten sorgen? Und wenn sie es nicht war, musste sie doch bemerken, dass die Mall sich so sehr verän dert hatte, dass niemand ihre Angaben überprüfen, sie widerlegen konnte.
    »Die Sicherheitsleute der Mall«, sagte sie und hielt vor einem Glaskasten an, in dem uniformierte Männer saßen und auf Bildschirme starrten. Kay fragte sich, ob sie vielleicht dachte, dass diese Männer sie vor dreißig Jahren hätten retten können. »Hier ist Karmelkorn – Nein, nein, nein. Ich bin völlig verkehrt. Der neue Flügel, wo Hecht’s ist, hat mich durcheinandergebracht. Es liegt gar nicht daran, dass die Mall größer geworden ist, sondern dass ich mich im Grundriss geirrt hatte, ich habe die zwei Gänge vertauscht.«

    Sie preschte derart schnell voran, dass Kay fast hinter ihr herlaufen musste. »Das Kino muss hier gewesen sein«, sagte sie und blieb abrupt stehen, drehte sich um und hetzte weiter. »Und wenn wir hier rechts einbiegen – genau, jetzt ergibt es einen Sinn. Da, wo die Rolltreppen waren, das war nicht Hoschild’s, sondern J. C. Penney, damals noch im Aufbau. Hier war der Orgelladen, wo Mr. Pincharelli am Wochenende arbeitete.«
    »Hier« bezog sich auf etwas, das sich Kid-Go-Round nannte, ein Laden mit feiner Kinderkleidung für Hochzeiten und Ähnliches. Daneben war ein Geschäft, das sich »Spuren der Vergangenheit« nannte, womit Kay erst einmal nichts anfangen konnte, bis sie begriff, dass sich dahinter Sammlerstücke der Negro Baseball League verbargen, teure Mannschaftstrikots von den Homestead Grays oder den Atlanta Black Crackers.
    »Mr. Pincharelli?«, fragte Kay.
    »Der Musiklehrer aus der Rock Glen Junior High. Sunny war eine Zeitlang total in ihn verknallt gewesen.«
    Heather stand völlig fasziniert da, wiegte sich leicht hin und her, summte wieder wie schon im Auto, schlang die Arme um sich, als ob ihr kalt wäre. »Sehen Sie sich diese Kleider an«, warf sie ein. »Blumenmädchen, Brautjungfern. Hatten Sie solch eine Hochzeit?«
    »Nicht ganz.« Kay lächelte bei der Erinnerung. »Wir heirateten draußen, im Garten eines Freundes beim Severn River, und ich trug Blumen im Haar. Es waren die Achtziger«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Und ich war gerade mal dreiundzwanzig.«
    »Ich werde niemals heiraten, so viel steht fest.« Heather klang weder reuevoll noch selbstmitleidig, lediglich sachlich.
    »Na, dann brauchen Sie sich wenigstens auch nicht scheiden zu lassen«, meinte Kay.
    »Meine Eltern haben sich scheiden lassen, stimmt’s? Ich
hab’s nicht gleich mitgekriegt. Sie haben sich getrennt. Denken Sie, es war meinetwegen?«
    »Ihretwegen?«
    »Also, nicht wegen mir, offensichtlich. Aber eine Folge von … dem, was passiert ist. Meinen Sie, es ist der Kummer gewesen, der sie auseinandergebracht hat?«
    »Ich glaube«, sagte Kay und wählte ihre Worte mit Bedacht, »dass Kummer und Leid dazu dienen, das zu verstärken, was bereits da ist, die Risse freizulegen, die bereits vorhanden sind. Starke Ehen wachsen daran. Schwache leiden darunter und zerbrechen daran. Das ist meine Erfahrung.«
    »Heißt das, dass meine Eltern zuvor keine gute

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