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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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sie Ihnen erzählt, was sie vorhat?«
    »Nein, mir nicht. Sie hatte gekündigt, und wir haben am Ende ihrer letzten Schicht eine kleine Feier für sie organisiert. Mit Kuchen und so. Aber sie war immer etwas verschlossen gewesen. Ich glaube …«, sie zögerte, anrührend aufrichtig in ihrem Bedürfnis, nicht zu tratschen, was sie für Infante nur noch attraktiver machte. So viele Leute, die er befragte, nutzten
die Gelegenheit, im Namen der Bürgerpflicht über andere herzuziehen, und verrieten bereitwillig alle möglichen unwesentlichen und abfälligen Einzelheiten.
    »Meinen Sie, sie war so verschlossen wegen der Situation bei ihr zu Hause?«
    Ein beherztes, erleichtertes Nicken. Oh Gott, er wollte sie unbedingt ficken. Es wäre wie … irgendwo am Strand liegen, nur dass der Sand wie Seide wäre, warm und weich, und kein bisschen knirschte. Es gab nichts Verbittertes an diesem Mädchen. Sie war makellos. Ihre Eltern waren vermutlich noch verheiratet, wahrscheinlich sogar noch ineinander verliebt. Sie war bestimmt mühelos durch ihre Schulzeit geglitten, war bei Jungs wie bei Mädchen gleichermaßen beliebt. Er konnte sich vorstellen, dass sich Vögel auf ihrer Schulter niederließen, als wäre sie eine Prinzessin bei Disney.
    »Einmal kam sie mit einem Bluterguss im Gesicht an. Ich habe ihr lediglich einen verstohlenen Blick zugeworfen, und sie hat sich fürchterlich darüber aufgeregt. ›Du hast doch keine Ahnung‹, sagte sie. Und ich meinte nur: ›Ich hab doch gar nichts gesagt, Penelope, aber wenn ich was für dich tun kann‹, und sie gleich: ›Nein, nein, nein, Heather, das verstehst du nicht. Es ist nicht das, was du denkst. Es war ein Unfall.‹ Und dann … dann …« Das Mädchen schluckte laut, nervös, und Infante versuchte mit aller Macht, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, noch während er sich überlegte, wie er sie dazu bringen könnte, mit ihm in seinen Mietwagen und auf ihn draufzusteigen. »Sie sagte: ›Mach dir keine Sorgen, es wird sich schon auszahlen. Ich werde daraus als Sieger hervorgehen.‹ Das war kurz vor Thanksgiving.«
    »Was kann sie damit gemeint haben?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Danach haben wir nie mehr darüber gesprochen. War das … na ja, war das falsch? Hätte ich es jemandem erzählen sollen? Sie dazu bringen sollen, dass sie Hilfe in Anspruch nimmt? Sie war schließlich erwachsen,
älter als ich. Ich wusste einfach nicht, wie ich ihr helfen sollte.«
    »Das haben Sie genau richtig gemacht«, sagte Infante und nutzte die Gelegenheit, ihr über den Unterarm zu streichen.
    »Kann ich Ihnen was bringen? Etwas zu essen oder zu trinken?« Ihre Stimme klang ein wenig tiefer, fast rauchig.
    »Eher nicht. Ich muss in etwa einer Stunde los zum Flughafen, zurück nach Baltimore.«
    Er bemerkte, wie sie einen Blick auf seine linke Hand warf. »Es gibt jede Menge Flüge ab Jacksonville. Sie könnten genauso gut ganz früh morgens losfliegen, es würde keinen Unterschied machen. Bis um neun sind Sie zu Hause, so oder so, entweder abends oder morgens. Was soll’s?«
    »Ich habe schon aus dem Motel ausgecheckt.«
    »Ach ja. Die Unterbringung ist sicher kein Problem. Die Leute hier sind echt freundlich. Und St. Simons ist toll. Ich wette, Sie haben noch so gut wie gar nichts davon gesehen.«
    Er dachte darüber nach. Natürlich. Hier war eine wunderschöne junge Frau, die ihm so gut wie versprach, dass sie mit ihm ficken würde, sobald ihre Schicht zu Ende war. Er könnte solange an der Bar sitzen, Bier trinken und die Vorfreude genießen, während er ihr dabei zusah, wie sie hin und her flitzte in diesen Khaki-Shorts. Sie würde wahrscheinlich nichts für die Getränke berechnen oder ihm wenigstens ein paar für umsonst zukommen lassen. Und wirklich, was sollte es? Ob er nun Samstagnacht oder Sonntagmorgen in Baltimore war? Nancy führte sowieso das Verhör heute, das nach seiner Rechnung gerade begann. Er war rausgedrängt worden, ohne dass er was dafür konnte. Also gut, niemand konnte was dafür, aber vor allem er nicht. Niemand würde Infante Vorwürfe machen, wenn er erst morgen käme, unter diesen Bedingungen – er malte sich die Bedingungen gerade aus, ein Unfall auf dem Damm, nichts Großartiges, nichts, was in den Nachrichten käme, aber schlimm genug, dass er nicht von der
Insel herunterkäme, dass er den letzten Flieger nach Baltimore verpassen würde – wer wollte da beweisen, dass so etwas nicht passieren konnte? Es brauchte ja keinen Spezialisten, um

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