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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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jemanden vom Flughafen abzuholen. Sollte doch jemand anders die Mutter babysitten, sie zum Sheraton bringen und sich um sie kümmern. Lenhardt würde sich wahrscheinlich noch mit ihm über sein Abenteuer mit einer hübschen Südstaatlerin freuen. Hast du auf Kosten der Abteilung was Gutes zu essen gekriegt? Nein, aber guten Sex !
    Er strich ihr flüchtig mit den Fingerspitzen über das Handgelenk und spürte dabei die Wärme, ihre pulsierende Jugendlichkeit, die Stärke, die daher rührte, dass ihr noch nie etwas Böses widerfahren war. Kevin machte sich nichts aus Jungfrauen, aber er mochte diese Art der Unschuld, die aus der Gewissheit geboren war, dass das Leben in ruhigen, geregelten Bahnen verlaufen würde. Vielleicht würde es für diese Heather so sein. Vielleicht würden alle, die sie liebte, zum richtigen Zeitpunkt sanft entschlummern. Vielleicht würde sie niemals mit ihrem Mann am Küchentisch sitzen und Tränen vergießen über die Rechnungen, die sie nicht bezahlen konnten, oder sich mit ihm über seine enttäuschten Hoffnungen streiten. Vielleicht hätte sie Kinder, die ihr nichts als Stolz und Freude brachten. Vielleicht. Irgendwer musste ja so ein Leben führen, oder? Bei seiner Arbeit begegnete ihm selten so jemand, aber es musste sie ja geben.
    Er nahm seine Hand von ihrem Handgelenk, schüttelte ihre kleine, weiche Hand und sagte ein paar Worte zum Abschied, wobei er sich bemühte, sie durch den Klang seiner Stimme und seine Miene wissen zu lassen, wie leid es ihm tat, dass er nicht blieb.
    »Oh«, sagte sie verwundert, ganz eindeutig ein Mädchen, das normalerweise bekam, was es wollte.
    »Vielleicht ein andermal«, sagte er und meinte damit: Morgen oder nächste Woche schleppe ich wahrscheinlich ein anderes
Mädchen ab, das ich in der Kneipe kennenlerne. Aber heute Abend werde ich meinen Mietwagen zurückbringen und mich als Teamkollege erweisen .
    Auf dem Weg aus der Stadt hielt er an einer Grillbude in Brunswick an und kaufte sich ein Pork-Sandwich, eine Spezialität der Südstaaten. Außerdem ein T-Shirt für Lenhardt: ein muskelbepacktes Schwein, das seinen Bizeps herzeigte: NIEMAND MACHT ES BESSER ALS WIR SELBST. Trotz des kurzen Stopps war er so früh am Flughafen in Jacksonville, dass er noch einen Flug früher nach Baltimore bekam, ein Nonstop-Flug, der fast eine Stunde weniger brauchte.

Kapitel 32
    »Möchten Sie einen anderen Stuhl?«
    Willoughby war das Angebot peinlich, die Fürsorglichkeit des Sergeants. Er war weder alt noch hochrangig genug für so viel Aufmerksamkeit.
    »Ich kann Ihnen einen besseren besorgen.«
    »Nein, ist schon gut so.«
    »Ich meine, nach ein paar Stunden werden Sie den hier spüren.«
    »Sergeant«, sagte er und wollte es würdevoll und stoisch klingen lassen, aber es klang nur gereizt. »Sergeant, es geht mir gut.«
    Es war nicht dasselbe Gebäude, in dem er die meiste Zeit seiner Laufbahn verbracht hatte, und er war dankbar dafür. Er war nicht hergekommen, um die Straße der Erinnerungen zu beschreiten. Er war der Schiedsrichter, der Linienrichter, der über wahr und unwahr entscheiden sollte. Zu seinen Füßen lag ein etwas verstaubter Briefumschlag und wartete auf den richtigen Augenblick. Es war fast halb fünf, eine interessante Zeit für eine voraussichtlich lange Vernehmung. Es war die träge Zeit des Tages, zu der der Blutzucker sank und man an das
Abendessen dachte, vielleicht an Cocktails, wenn die angesagt waren. Zuvor hatte Willoughby die hübsche Kriminalbeamtin einen Apfel und mehrere Stück Käse essen sehen, die sie mit einer Flasche Wasser heruntergespült hatte.
    »Proteine«, erklärte sie ihm, als sie bemerkte, dass er sie dabei beobachtete. »Die halten lange vor.«
    Er hätte gern eine Tochter gehabt. Ein Sohn wäre auch gut gewesen, aber eine Tochter kümmert sich um ihre alten Eltern, während die Söhne meist von der Familie der Frau aufgenommen werden, oder zumindest hatte er das mehrfach gehört. Hätte er eine Tochter gehabt, hätte er immer noch eine Tochter. Und Enkel. Es war nicht so, dass er einsam war. Bis vor kurzem war er eigentlich ganz zufrieden gewesen mit seinem Leben. Er war gesund, er konnte Golf spielen, hatte seine Golffreunde, und wenn er die Gesellschaft einer Frau brauchte, da gab es einige in Edenwald, die sich nur zu gern freiwillig meldeten. Zweimal im Monat traf er seine alten Freunde, alles Jungs aus der Gilman-Schule. Sie setzten sich ins Starbucks an der York Road, dort, wo einmal die alte

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