Was die Toten wissen
Citgo-Tankstelle gewesen war, und sie sprachen über Politik und die guten alten Zeiten. Die traurige Wahrheit war, dass Evelyn bereits lange Zeit so krank und zerbrechlich gewesen war, dass er sie gar nicht wirklich vermisste. Oder besser gesagt, sie hatte ihm in den letzten zehn Jahren ihres Lebens ständig gefehlt, und jetzt, wo sie endgültig nicht mehr war, fiel es ihm leichter, sich damit abzufinden.
Es war merkwürdig, aber Evelyn wollte partout nicht, dass er mit ihr über die Bethany-Mädchen redete. Andere Fälle, selbst solche mit viel grausameren Details, machten ihr nicht so viel aus. In Wahrheit mochte sie sein Doppelleben. Seine Polizeiarbeit hatte ihm Ruhm eingebracht, ihn begehrenswerter gemacht, und Evelyn war darin aufgegangen, wie ihre Freundinnen um ihn herumschwärmten, versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erregen, und ihn mit Fragen über seine
Arbeit löcherten. Nur nicht die Bethany-Mädchen, niemals die Bethany-Mädchen. Er hatte angenommen, dass das Thema zu herzzerreißend für sie war. Da sie selbst keine Kinder bekommen konnte, ertrug sie es nicht, mehr über ein anderes unfruchtbares Paar zu hören, das fast durch Zauberhand welche gewonnen und dann wieder verloren hatte. Jetzt kam ihm zum ersten Mal in den Sinn, dass das eigentliche Problem vielleicht gewesen war, dass er den Fall nie gelöst hatte. War Evelyn enttäuscht von ihm gewesen?
»Sie kommen zu spät«, blaffte Gloria Kay an und nahm Heather beim Arm.
»Heather hat Ihnen doch erzählt, wie es dazu kam«, sagte Kay und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie nicht log, sondern Heathers Lüge einfach nur so stehen ließ. Als Kay mit in den Aufzug steigen wollte, hielt Gloria sie zurück.
»Sie können nicht mit hoch. Das heißt, Sie können schon mit hochkommen, aber dann sitzen Sie alleine in einem leeren Büro oder Konferenzzimmer herum.«
»Oh – klar doch«, ihre zweite Lüge in weniger als einer Minute, diesmal aber nur, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
»Es wird etliche Stunden dauern, Kay. Ich bin davon ausgegangen, dass ich Heather anschließend nach Hause fahre.«
»Aber das liegt überhaupt nicht auf Ihrem Weg. Sie wohnen hier in der Nähe und ich im Südwesten.«
»Kay …«
Sie sollte wirklich nach Hause gehen, sagte sich Kay. Sie ließ sich sowieso schon viel zu sehr auf Heather ein und überschritt sämtliche Befugnisse. Die bloße Tatsache, dass die Frau bei ihr wohnte, na ja, nicht bei ihr im Haus, aber auf ihrem Grund und Boden, konnte ihr Ärger bereiten. Sie kam vom rechten Weg ab. Aber nachdem sie schon so weit gegangen war, wollte sie auch nicht mehr umkehren.
»Ich habe ein Buch dabei. Jane Eyre . Es macht mir gar nichts aus.«
» Jane Eyre , also. Ich habe noch nie was von ihr lesen können.« Kay wurde klar, dass Gloria den Roman von Brontë mit der anderen Jane in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts verwechselt hatte, mit Jane Austen. In Glorias Hirn war neben ihren Mandanten, neben ihrer Arbeit bestimmt wenig Platz für anderes. Sollte Kay sie beiseitenehmen und ihr erzählen, dass sie in der alten Mall gewesen waren? Würde Heather es freiwillig erzählen? War es von Bedeutung? Als sie alleine war, huschte ihr Blick blind über die Seiten, folgte Janes Flucht aus Thornfield, nahm aber nichts wirklich auf von dem steifen Heiratsantrag von St. John, den hinreißenden, bewundernden Schwestern, die sich als Janes Cousinen erwiesen.
Sie war nicht glücklich darüber, eine weibliche Beamtin im Zimmer vorzufinden, versuchte aber dennoch, sich ihre Überraschung und Verärgerung nicht anmerken zu lassen.
»Warten wir noch auf Kevin?«, fragte sie.
»Kevin?«, wiederholte die rundliche Kriminalbeamtin. »Oh, Kevin Infante.« Als ob sie kein Recht hätte, ihn beim Vornamen zu nennen. Sie mag mich nicht. Sie nimmt es mir übel, dass ich viel schlanker bin, obwohl sie doch viel jünger ist. Sie nimmt Kevin in Schutz. »Detective Infante musste dienstlich nach Georgia.«
»Hat das irgendeine Bedeutung für mich?«
Gloria warf ihr einen raschen Blick zu, aber es war ihr inzwischen egal, was Gloria dachte. Sie wusste, was sie tat und was sie tun musste.
»Ich weiß es nicht. Hat es denn eine Bedeutung für Sie?«
»Ich habe dort nie gelebt, wenn es das ist, was Sie andeuten wollen.«
»Wo haben Sie denn die letzten dreißig Jahre gelebt?«
»Sie beruft sich diesbezüglich auf das Auskunftsverweigerungsrecht«, wandte Gloria schnell ein.
»Ich bin mir nicht
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