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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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Sozialversicherungsnummer beantragt. Damit konnte er mich in der Pfarrschule in York anmelden.«
    »Nur mit der Sozialversicherungsnummer?«
    »Es war ja die Schule der Pfarrgemeinde, und er hat ihnen erzählt, dass es alles sei, was ich noch besaß, dass alles andere verbrannt sei und dass es Monate dauern würde, bis ich eine neue Geburtsurkunde bekäme. Er war Polizist gewesen und genoss ein gewisses Ansehen. Die Menschen tanzten meistens nach seiner Pfeife.«
    »Also meldet er Sie in der Schule an und schickt Sie jeden Tag dorthin, und Sie versuchen gar nicht, irgendwem zu erzählen, wer Sie sind und was passiert ist?«
    »Das geschah ja nicht gleich. Er wartete bis zum nächsten Herbst. Fast sechs Monate lang, ich lebte unter seinem Dach ohne jegliche Freiheiten. Bis ich mit der Schule anfing, war ich

    bereits ziemlich gebrochen. Man hatte mir tagtäglich erzählt, dass sich niemand für mich interessiere, dass mich niemand suche, dass ich von ihm abhängig sei. Er war erwachsen und Polizist. Ich war ein Kind. Ich habe ihm geglaubt. Und zudem wurde ich ja jede Nacht vergewaltigt.«
    »Und seine Frau duldete das?«
    »Sie verschloss die Augen davor, wie es in Familien oft üblich ist. Oder vielleicht redete sie sich auch ein, dass ich an allem selbst schuld sei, dass ich eine Kinderprostituierte wäre, die ihren Gatten verführt hatte. Ich weiß es nicht. Nach einiger Zeit stumpft man ab. Es war wie eine lästige Pflicht, der man nachkommen muss. Wir wohnten zwischen Glen Rock und Shrewsbury, was mir ewig weit von Baltimore weg erschien. Dort sprach nie einer von den Bethany-Mädchen. Das war etwas, das in der Stadt passiert war. Und sowieso gab es die Bethany-Mädchen nicht mehr. Nur noch ein Bethany-Mädchen.«
    »Wohnen Sie jetzt noch dort?«
    Sie lächelte. »Nein, Detective, ich bin bereits vor langer Zeit dort weg. Als ich achtzehn wurde, hat er mir Geld gegeben, mich in den Bus gesetzt und gesagt, ich müsse von nun an alleine klarkommen.«
    »Und warum haben Sie nicht den Bus nach Baltimore genommen, Ihre Familie aufgespürt und allen erzählt, wo Sie gewesen waren?«
    »Weil es mich gar nicht mehr gab. Ich war Ruth Leibig gewesen, einzige Überlebende eines schrecklichen Feuers in Columbus, Ohio. Bei Tag ein ganz normaler Teenager, bei Nacht Gespielin. Es gab keine Heather Bethany mehr. Ich konnte nicht mehr zurück.«
    »Dann war das der Name, den Sie benutzten?«
    Ein noch breiteres Grinsen. »So einfach geht das nicht. Stan Dunham war ein guter Lehrer gewesen. Ich lernte ebenfalls, die alten Zeitungen nach Namen von Verstorbenen zu durchforsten,
und legte mir eine neue Identität zu. Inzwischen ist so was natürlich schwerer. Die Leute kriegen ihren Sozialversicherungsausweis immer früher. Aber für jemanden in meinem Alter gibt es noch genug Namen kleiner toter Kinder, die man verwenden kann. Und Sie würden sich wundern, wie leicht es ist, sich mit ein paar Basisinfos und ein bisschen Geschick eine falsche Geburtsurkunde ausstellen zu lassen.«
    »Was für eine Art von Geschick?«
    »Das geht Sie überhaupt nichts an.«
    Gloria nickte zustimmend. »Sehen Sie mal, sie hat Ihnen ihre Geschichte erzählt. Jetzt wissen Sie Bescheid.«
    »Nur dass alles, was sie uns bisher erzählt hat, in eine Sackgasse mündet«, sagte Nancy. »Die Farm, auf der all dies stattgefunden hat? Weg. Schon vor Jahren in Parzellen unterteilt, und es gibt keine Vermerke darüber, dass dort menschliche Überreste gefunden wurden.«
    »Dann überprüfen Sie doch mal die Pfarrschule Sisters of the Little Flower. Sie werden dort Ruth Leibig in den Unterlagen finden.«
    »Stan Dunham ist im Hospiz. Er liegt im Sterben …«
    »Gut so«, warf sie ein.
    »Seine Frau ist vor fast zehn Jahren gestorben. Oh, und der Sohn? Der ist erst vor drei Monaten bei einem Brand ums Leben gekommen. In Georgia. Wo er mit Penelope Jackson lebte.«
    »Er ist tot? Tony ist tot?«
    Wäre Willoughby jünger gewesen, wäre er wahrscheinlich von seinem Stuhl aufgesprungen. Infante und Lenhardt, die sowieso bereits standen, verharrten reglos und beugten sich dann gebannt zur Lautsprecherbox, die ihnen die Unterhaltung übermittelte.
    »Hast du …«, fing Lenhardt an, während Infante bereits sagte: »Das Schicksal des Vaters hat sie nicht überrascht, bei Penelope Jackson oder Georgia hat sie null Interesse gezeigt, aber

    als es um den Sohn ging, konnte sie ihre Überraschung nicht verbergen. Und sie kannte seinen Namen, obwohl ihn Nancy nicht genannt

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