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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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Dunham noch immer gekriegt, was sie wollte.

Kapitel 36
    »Weil sie adoptiert war, weißt du?«
    Dave stand in der Schlange und wollte sich eine Zimtschnecke kaufen, als sich dieser einzelne Satz aus der Geräuschkulisse um ihn herum löste und ihn traf wie ein Schuh oder ein Kieselstein, den jemand geworfen hatte. Die Bemerkung galt aber
gar nicht ihm, sondern war Teil einer Unterhaltung, die zwei Frauen mittleren Alters seelenruhig in der Schlange hinter ihm führten.
    »Was?«, fragte er, als ob sie ihn absichtlich in ihr Gespräch mit einbezogen hätten. »Wer wurde adoptiert?«
    »Lisa Steinberg«, sagte die eine.
    »Das kleine Mädchen, das in New York von ihrem Adoptivvater so brutal geschlagen wurde? Prima, dass der Scheißkerl endlich ins Gefängnis kommt. Aber die Frau hätten sie auch einsperren sollen. Keine richtige Mutter hätte untätig zugesehen, während das passierte. Niemals. Auf gar keinen Fall.«
    Sie nickten selbstgefällig und zufrieden. Sie kannten sich aus in der Welt. Die Frauen waren teigig und käsig, so wie die Backwaren in Bauhof’s Bakery. Dave musste an ein Buch denken, das Sunny und Heather sehr gemocht hatten, Beastly Boys and Ghastly Girls , mit drolligen Zeichnungen von jemand Bekanntem. Addams? Gorey? Sehr gewitzte Strichzeichnungen von irgend so jemand. Eine Geschichte handelte von einem Jungen, der nur Süßigkeiten aß, bis er in der Sonne dahinschmolz, zu einer Pfütze gallertartigen Fleisches mit einem Gesicht gerann.
    »Wie können Sie …«, setzte er an, aber Miss Wanda, die nach jahrelanger Nachbarschaft alle seine Stimmungen kannte, lenkte seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung, wie eine Mutter den Wutanfall ihres Sohnes abgewendet hätte.
    »Es gibt Apfeltaschen, Mr. Bethany. Noch ganz heiß.«
    »Das kann ich mir nicht erlauben …«, fing er an. Dave hatte zwar immer noch das alte Gewicht wie zu College-Zeiten, aber sein Körper war ebenfalls etwas teigig. Sein Fleisch hing lose und schlaff an ihm herunter, wogegen er machtlos war. Er hatte mit dem Laufen schon vor ein paar Jahren aufgehört, weil er einfach keine Zeit mehr dafür hatte.
    »Na kommen Sie schon. Da sind Äpfel drin. Das ist gut für Sie. Ein Apfel am Tag … wie der Doktor so schön sagt.« Und mit Hilfe der Apfeltasche gelang es Miss Wanda, ihn aus der
Bäckerei zu schicken, bevor er sich in etwas hineinsteigerte. Eine heiße Apfeltasche wie eine gelinde Antwort stillet den Zorn.
    Er war bereits den ganzen Morgen schlecht drauf gewesen, zum einen aus dem üblichen Grund, zum anderen wegen ein paar neuen Gründen. Sein jährlicher Anrufer hatte sich nicht gemeldet. Der Typ hatte schon seit Jahren nichts mehr gesagt und stattdessen einfach aufgelegt, wenn er, wie jeden 29. März, anrief. Schon seltsam, dass ihm ausgerechnet das zu schaffen machte, aber es nagte tatsächlich an Dave. War der Kerl gestorben? Oder hatte er es nur ebenfalls aufgegeben? Selbst die Widerlinge gaben irgendwann mal auf. Dann rief Dave bei Willoughby an. Der Kriminalkommissar hatte das Datum nicht vergessen, weit gefehlt. Stattdessen brachte er wie immer das gewohnte stoische Verständnis auf, stummes Mitleid. Kein »Hey, Dave, was ist los?«. Er tat nicht so, als gäbe es irgendwelche Fortschritte, meinte nur: »Hallo, Dave, ich sehe mir gerade die Akte an.« Willoughby legte die Akte nie beiseite, aber an diesem speziellen Tag legte er besonderen Wert darauf, sie vor sich zu haben.
    Dann zündete Willoughby die Bombe.
    »Ich gehe Ende Juni in den Ruhestand.«
    »In den Ruhestand? Sie sind doch noch so jung. Jünger als ich.«
    »Wir können nach zwanzig Dienstjahren mit der vollen Pension austreten, und ich habe zweiundzwanzig zusammen. Meine Frau … Evelyns Gesundheitszustand war nie der beste. Ich möchte noch ein bisschen Zeit mit ihr verbringen, bevor … Es gibt da diese Einrichtungen, wo man für sich wohnen kann, aber wenn man krank wird, wird man dort auch gepflegt, in der eigenen Wohnung. Wir sind noch nicht ganz so weit, aber in fünf Jahren oder so … wir würden gern noch – wie heißt das immer so schön – ein paar schöne Jahre miteinander verbringen.«

    »Hören Sie denn ganz auf? Sigmund Freud meinte, dass die Arbeit ganz entscheidend zum Wohlbefinden eines Mannes beitrage. Zu jedermanns.«
    »Vielleicht übernehme ich ein Ehrenamt. Ich habe es nicht nötig – na ja, es gibt genug, womit ich mich beschäftigen kann.«
    Vermutlich hatte er sagen wollen: Ich habe es nicht nötig, Geld zu verdienen.

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