Was die Toten wissen
Aber selbst jetzt noch, nachdem er Dave bereits vierzehn Jahre kannte, nachdem sie sich sowohl über sehr persönliche als auch über schreckliche Dinge ausgetauscht hatten, war Willoughby noch zurückhaltend. Vielleicht war er so daran gewöhnt, seine finanziellen Verhältnisse vor seinen Kollegen herunterzuspielen, dass er auch bei Dave diese Angewohnheit nicht ablegen konnte. Einmal, nur ein einziges Mal, hatte er Dave zu einer Weihnachtsparty eingeladen, eine Einladung aus Mitleid. Dave hatte mit einem raubeinigen, herzhaften Umtrunk unter Cops gerechnet, sich sogar danach gesehnt, denn solch eine Feier wäre für ihn etwas Neues gewesen. Aber es erwies sich eher als eine Familien- und Nachbarschaftsangelegenheit – und was für eine Familie und was für Nachbarn das waren! Sie besaßen die tadellosen, gepflegten Umgangsformen, die die Pikesville-Familien aus Daves Kindheit versucht hatten, sich anzueignen, mit viel Getöse und lauter Zurschaustellung; aber es war unmöglich, Reichtum auf dieser Stufe nachzuahmen. Karierte Hosen, Käsesoufflés, Martini-Cocktails, schmalhüftige Frauen und rotgesichtige Männer, und alle unterhielten sich mit gedämpfter Stimme, ganz gleich, wie viel Alkohol sie intus hatten. Es war die Art von Ereignis, die er Miriam gerne geschildert hätte, wenn sie noch miteinander gesprochen hätten. Miriams Telefon war abgestellt. Das wusste er, weil er sie noch gestern Abend anzurufen versucht hatte.
»Was wird … wer wird …« Seine Stimme klang belegt, Panik stieg in ihm hoch.
»Der Fall wurde schon weitergeleitet«, sagte Willoughby
schnell. »An einen cleveren jungen Kriminalbeamten. Ich werde ihm ganz klar zu verstehen geben, dass er Sie auf dem Laufenden halten soll. Alles bleibt beim Alten.«
Das ist ja das Problem , dachte Dave düster. Alles bleibt beim Alten. Neue Spuren werden sich genauso schnell wie Tau wieder auflösen. Hin und wieder wird ein Verrückter oder einer, der im Gefängnis sitzt und sich eine Sonderbehandlung erhofft, behaupten, einen Hinweis zu haben, der sich dann doch wieder nur als Humbug erweist. Alles bleibt beim Alten. Der einzige Unterschied wird sein, dass der neue Kriminalbeamte mich nicht die ganze Zeit begleitet hat. In gewisser Hinsicht war Willoughbys Entscheidung noch zermürbender als der Bruch mit Miriam, und sicherlich traf es Dave noch unerwarteter.
»Werden wir uns … trotzdem noch sprechen?«
»Aber natürlich, jederzeit. Ich werde die Sache weiter im Auge behalten, gar keine Frage.«
»Okay«, sagte er.
»Ich muss dabei allerdings diplomatisch vorgehen. Ich kann dem Neuen nicht ständig im Nacken sitzen. Aber dieser Fall wird immer meiner bleiben. Er ist einer von zweien, die mir ganz besonders am Herzen liegen.«
»Einer von zweien?« Dave konnte nicht anders. Er war entsetzt darüber, dass irgendein anderer Fall für Willoughby eine ähnliche Bedeutung haben könnte.
»Der andere Fall ist gelöst«, lenkte Willoughby rasch ein. »Vor langer Zeit. Mit guter Polizeiarbeit trotz schwieriger Bedingungen. Kein Vergleich.«
»Ja, ich verstehe. Ein Fall, bei dem gute Polizeiarbeit geleistet wurde, ist nicht mit meinem vergleichbar.«
»Dave.«
»Tut mir leid. Es liegt an dem Tag heute. Dass heute dieser Tag ist. Vierzehn Jahre und noch nicht mal eine verdammte Spur, noch nicht mal der Hauch eines Hinweises. Ich weiß immer noch nicht, wie ich damit umgehen soll, Chet.«
»Damit« drückte alles aus – nicht nur, dass das Verbrechen immer noch nicht gelöst werden konnte, sondern auch sein gesamtes Dasein. Er hatte gelernt weiterzumachen, weil dies nichts weiter verlangte, als sich von einem Tag zum nächsten zu schleppen, die reine Trägheit. Weiterzumachen war einfach. Aber er hatte schon lange vergessen, wie man lebt . Seit Jahren dachte er das erste Mal wieder an seine Freunde vom Fünffachen Pfad, die rituellen Opfergaben und die Meditation, die er hatte sein lassen, weil er nicht länger so tun konnte, als nehme er jeden Augenblick ganz bewusst wahr. In Alice im Wunderland galt das Prinzip: »Marmelade morgen und Marmelade gestern, aber niemals Marmelade heute«. In Daves Welt gab es kein Heute, nur Gestern und Morgen.
»Keiner ist für das gerüstet, was Sie durchgemacht haben, Dave. Noch nicht mal ein Kriminalbeamter. Ich sollte Ihnen das vielleicht nicht sagen, aber ich hatte die Akte öfter bei mir zu Hause als nicht. Jetzt, in Anbetracht meiner Pensionierung … muss ich sie zurückgeben, aber ich werde mir auch
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