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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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mit vorgegebener Zeit bei jedem Wort einen Fehler machte. Wurde die Zeit nicht gestoppt, konnte sie ganz gut tippen.
    Sunny hatte sich gefragt, warum ihre Eltern darauf bestanden hatten, dass sie bereits in der Junior High Maschineschreiben als Wahlfach belegte, wenn sie doch sowieso davon
ausgingen, dass sie den Rest ihres Lebens mit Tippen bestreiten würde. Seit der sechsten Klasse, als praktisch die meisten ihrer Klassenkameradinnen in ein höheres Niveau eingestuft wurden, während ihre Noten nur knapp über dem Durchschnitt lagen, machte sie sich Gedanken, ob sie sich ihre Zukunft womöglich verbaut hatte; ob sie Möglichkeiten vertan hatte, von denen sie gar nicht wusste, dass sie existierten. Als sie klein war, hatten ihr ihre Großeltern einen Schwesternkoffer geschenkt, während Heather den Arztkoffer bekam. Damals war der Schwesternkoffer eindeutig besser gewesen, weil auf dem Plastik ein hübsches Mädchen abgebildet war und auf dem Arztkoffer ein Junge. Wie sich Sunny vor Heather aufgespielt hatte. »Du bist ein Junge .« Aber vielleicht wäre es besser gewesen, den Arzt zu spielen? Oder wenigstens, dass einem die Leute zutrauten, man könne Arzt werden? Ihr Vater sagte, sie könnten werden, was sie wollten. Sunny war jedoch nicht so ganz davon überzeugt, dass er auch daran glaubte.
    Heather würde selbstverständlich in den höheren Kurs einsteigen, wenn sie nächstes Jahr auf die Rock Glen käme, und damit ein Schuljahr in der Junior High überspringen. Es lag nicht daran, dass Heather cleverer war als Sunny. Ihre Mutter sagte, die IQ-Tests an der Schule hätten ergeben, dass beide Schwestern überaus intelligent waren, fast schon hochbegabt. Aber Heather war in der Schule gut wie andere in Leichtathletik oder Baseball. Sie verstand die Regeln, während Sunny sich immer wieder selbst im Weg stand, weil sie mit aller Macht kreativ und anders sein wollte. Und obwohl dies genau die Eigenschaften waren, die ihre Eltern über glatte Einsen und stures Auswendiglernen hinaus so schätzten, hatten sie ihre Erwartungen an Sunny eindeutig heruntergeschraubt, als sie nicht als »begabt« eingestuft wurde. War Sunny deshalb vielleicht immer so wütend auf sie? Ihre Mutter lachte darüber und nannte es eine Phase, während ihr Vater sie zu Streitgesprächen
anregte, »aber vernünftig«, ein Hinweis, der bei ihr nur dazu führte, dass sie sich noch unvernünftiger verhielt. In letzter Zeit hatte sie angefangen, seine politischen Überzeugungen in Frage zu stellen, das, was ihm am meisten am Herzen lag. Ihr Vater war jedoch ungeheuer ruhig dabei geblieben und hatte sie wie ein kleines Mädchen behandelt, als wäre sie Heather.
    »Wenn du meinst, du müsstest Gerald Ford bei der Wahl nächstes Jahr unterstützen, mach ruhig«, hatte er ihr erst vor ein paar Wochen erzählt. »Ich verlange nur, dass du fundierte Gründe dafür hast, dass du seine Standpunkte hinterfragst.«
    Sunny wollte niemanden bei der Präsidentschaftswahl unterstützen. Politik war blöd. Es war ihr schon peinlich, sich an ihre leidenschaftlichen Reden für McGovern 1972 zu erinnern. Jeden Freitag mussten sie damals in der sechsten Klasse solche Debatten zu aktuellen Themen führen. Nur sechs von siebenundzwanzig Kindern hatten am Probewahltag für McGovern gestimmt, einer weniger als noch bei der ersten Abstimmung zum Schuljahresbeginn. »Sunny hat mich davon abgebracht«, meinte der selbstgefällige Lyle Malone, als er nach dem Grund für seine Meinungsänderung gefragt wurde. »Ich dachte mir, wenn sie ihn toll findet, kann er nichts taugen.«
    Wenn aber Heather in ihrer Klasse für McGovern gewesen wäre, hätte mit Sicherheit jeder für ihn gestimmt. Heather hatte eine derartige Wirkung auf die Leute. Sie zog die Blicke auf sich, alle wollten sie zum Lachen bringen, ihr gefallen. Selbst jetzt schien der MTA-Busfahrer, so ein Typ, der normalerweise jeden anschrie, der zu lange beim Einsteigen herumtrödelte, wie verzaubert von dem aufgeregten kleinen Mädchen, das seine Jeanstasche an die Brust drückte. »Du musst das Kleingeld hier reinstecken, Süße«, sagte der Busfahrer, und Sunny wollte ihn anbrüllen, so süß ist sie nun auch wieder nicht ! Stattdessen ging sie die Stufen hoch und starrte auf ihre Schuhe mit Keilabsätzen, die sie erst seit zwei
Wochen hatte. Sie waren unpassend für dieses Wetter, aber sie konnte es nicht mehr abwarten, sie anzuziehen, und heute war es endlich so weit.

Kapitel 9
    Am Samstag vor Ostern herrschte

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