Was die Toten wissen
dennoch rutschte ihm das Herz in die Hose. Er war davon ausgegangen, dass diese adrette junge Frau mit ihren kanadischen Manieren und Vokalen anders wäre. Sie arbeitete als Schreibkraft bei derselben Behörde, bei der Dave als Datenanalyst beschäftigt war, und es hatte ganze drei Monate gedauert, bis er sich traute, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde.
»Ja?«
»Es ist dein Atem.«
Er hatte sich automatisch die Hand vor den Mund gehalten, wie Adam, der seine Blöße bedeckte, nachdem er in den Apfel gebissen hatte. Aber Miriam streichelte ihm über die andere Hand auf dem Tisch.
»Nein-nein-nein – mein Vater ist Zahnarzt. So was lässt sich ändern.« Und so war es auch. Mit Zahnseide und Zahnbürstchen und einer anschließenden Zahnfleischoperation rettete Miriam Dave vor dem Schicksal, dass alle vor ihm zurückwichen,
sobald er nur den Mund aufmachte. Erst als dieses Verhalten aufhörte, verstand Dave, was es bedeutet hatte, wenn die Leute das Kinn einzogen und die Nase senkten. Er stank aus dem Mund. Sie versuchten, nicht einzuatmen . Er fragte sich unweigerlich, ob diese ersten fünfundzwanzig Jahre – diese übelriechenden Jahre, wie er sie nannte – ihn nicht für immer gezeichnet, einen bleibenden Schatten auf ihn geworfen hatten. Wenn ein Vierteljahrhundert lang die Leute vor einem zurückweichen, durfte man dann überhaupt noch damit rechnen, umarmt und angenommen zu werden?
Seine Töchter waren für ihn die einzige Chance zu einem Neuanfang. Denn genau genommen hatte auch Miriam ihn noch als Mundgeruch-Dave gekannt, wenn auch nur kurz. Die Mädchen hatten ihn anfänglich wie einen Helden verehrt, und Dave war so naiv gewesen, zu glauben, sie würden ihn nie überhaben. Mittlerweile schien ihn Sunny jedoch als die Peinlichkeit in Person zu betrachten, als die Verkörperung eines Furzes oder Rülpsers. Heather, altklug wie immer, fing bereits an, ihrer coolen großen Schwester nachzueifern. Doch selbst wenn seine Töchter inzwischen versuchten, sich von ihm fernzuhalten, konnten sie dennoch nicht verhindern, dass er wusste, was in ihnen vorging. Es kam ihm vor, als lebte er in ihren Köpfen, als betrachtete er die Welt durch ihre Augen, durchlebte all ihre Siege und Niederlagen. »Das verstehst du nicht«, motzte Sunny ihn immer häufiger an. Das eigentliche Problem war aber, dass er sie nur allzu gut verstand.
Zum Beispiel dieser neueste Tick von ihr mit der Mall. Sunny meinte, dass Dave diese Einkaufszentren nicht ausstehen konnte, weil es dort nur billige Massenware zu kaufen gab – die genauen Gegenstücke zu den handgefertigten Einzelstücken, die er in seinem Laden führte. Tatsächlich aber missfiel ihm die Wirkung, welche die Mall auf Sunny hatte. Sie zog sie an wie ein Magnet, ganz genau so, wie die Sirenen Odysseus
in ihren Bann gezogen hatten. Er wusste, was sie dort trieb. Es war gar nichts anderes als das, was er als Teenager in Pikesville getrieben hatte, als er die Reisterstown Road auf und ab gegangen war und darauf gewartet hatte, dass einer, egal wer, ihn beachten würde. Er war immer der Außenseiter gewesen, der Sohn einer alleinerziehenden Mutter, wo doch alle anderen mit beiden Elternteilen aufwuchsen, dem Namen nach ein Protestant in einer Gegend von wohlhabenden jüdischen Familien. Seine Mutter hatte als Bedienung im Pimlico-Restaurant gearbeitet und war auf die Großzügigkeit der Väter seiner Klassenkameraden angewiesen gewesen, von Männern, die ihr Trinkgeld gaben, mal fünfundzwanzig Cent mehr, mal etwas weniger, dabei war es bei Dave zu Hause auf jeden Cent angekommen. Oh, niemand hatte sich öffentlich über ihn lustig gemacht, weil er arm war. Er war es gar nicht wert, dass sich jemand überhaupt die Mühe machte, ihn durch den Kakao zu ziehen, was noch schlimmer war.
Und jetzt hatte es Sunny erwischt. Er konnte ihre Sehnsucht regelrecht riechen. Und während Verzweiflung schon schlimm genug für einen Jungen war, war sie für ein Mädchen geradezu gefährlich. Er hatte schreckliche Angst um Sunny. Als Miriam versuchte, seine Ängste zu bagatellisieren, hätte er am liebsten gesagt, ich weiß, wovon ich rede . Ich weiß es. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was einem Mann durch den Kopf geht, der ein Mädchen in einem engen Pullover sieht, wie niedrig seine Instinkte und Triebe sind. Aber hätte er das Miriam erzählt, hätte sie ihn womöglich gefragt, was ihm denn so durch den Kopf gehe, wenn er die Mädchen aus der Woodlawn High School jeden Tag
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