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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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an seinem Laden vorbeiziehen sah.
    Nicht dass er irgendetwas von Teenagern gewollt hätte, weit gefehlt. Vielmehr wäre er gern selbst wieder ein Teenager gewesen oder zumindest ein junger Mann in den Zwanzigern. Er wollte die Freiheit genießen, sich durch diese neue Welt zu bewegen, in der die Mädchen die Haare lang und offen trugen
und ihre nackten Brüste unter eng anliegenden, bunt bedruckten Blusen auf und ab wippten. Die Freiheit, umherzuwandern und bewundernde Blicke auszuteilen, aber sonst nichts. Als er noch für den Staat gearbeitet hatte, hatte er erlebt, wie viele seiner Kollegen dem Trieb einfach nachgaben. Selbst in der eher spießigen Buchhaltungsabteilung ließen sich die Männer Koteletten wachsen und fingen an, sich modisch zu kleiden. Dave hätte ohne Weiteres eine Statistik aufstellen können, nach der die Ehe eines Mannes, sobald er sich Koteletten wachsen ließ, etwa zehn Monate später in die Brüche ging. Jedenfalls zogen diese Typen dann zu Hause aus, in eine dieser neuen Apartmentanlagen, und erklärten allen Ernstes, dass ihre Kinder nicht glücklich sein könnten, wenn sie es nicht waren. Mannomann , wie Sunny wahrscheinlich geschnaubt hätte. Dave, der selbst ohne Vater aufgewachsen war, hätte seinen Töchtern nie so etwas angetan.
    Der große Zeiger auf der »Zeit-für-einen-Haarschnitt«-Uhr kroch auf die Vier zu. Fast sechs Stunden waren bereits vergangen und kein Mensch war hereingekommen. War es möglich, dass der Ort verflucht war? Vor ein paar Wochen hatte er eine der Frauen hinter der Verkaufstheke von Bauhof’s Bakery in ein Gespräch verwickelt, während sie Kekse in eine Wachspapiertüte füllte. Die Bäckerei benutzte noch die altmodischen Gegengewichte, die zunehmend von elektronischen, bis auf ein Hundertstel genau messenden Waagen abgelöst wurden. Dave mochte die Eleganz der etwas ungenaueren alten Waagschalen und freute sich darüber, wie sie sich mit jedem neuen Keks langsam anglichen.
    »Wollen wir mal sehen«, sagte die Verkäuferin Elsie, die sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um an die Waage heranzureichen. »Da war jahrelang eine Eisenwarenhandlung drin gewesen, Fortunato’s. 1968 regte sich der alte Besitzer aber so sehr über die Unruhen auf, dass er verkaufte und nach Florida zog.«

    »Es gab gar keine Unruhen in Woodlawn. Die Aufstände waren meilenweit entfernt.«
    »Richtig, aber Benny regte sich trotzdem darüber auf. Deshalb verkaufte er an eine Frau, die einen Kinderkleidungsladen daraus machte. Aber die wollte zu viel dafür.«
    »Zu viel?«
    »Die Sachen waren zu teuer. Wer gibt schon zwanzig Dollar für einen Pullover aus, den das Baby grade mal einen Monat trägt? Also hat sie wieder verkauft, an welche, die ein Restaurant aufmachten, das nicht lief. Die beiden jungen Leute waren völlig überfordert. Brauchten mehr als eine Dreiviertelstunde für ein Western Omelette. Dann war ein Buchladen drin, aber mit Gordon’s auf der Westview und Waldenbooks am Security Square, wer kommt da schon nach Woodlawn und kauft ein Buch? Dann war da der Anzugverleih …«
    »Die Darts«, sagte Dave, und ihm fiel der Mann mit den Hängeschultern und einem Zentimetermaß um den Hals ein, und seine schüchterne Frau, die unter einem mächtigen Vorhang von vorzeitig ergrautem Haar hervorblinzelte. »Ich habe den Pachtvertrag von ihnen übernommen.«
    »Nette Leute, vernünftig, aber die Leute gehen dorthin, wo sie schon immer hingegangen sind, wenn sie einen neuen Smoking brauchen. Bei Smokings probiert man nichts Neues aus. Es ist wie beim Beerdigungsinstitut. Da geht man dorthin, wo schon der Vater hingegangen ist, und der ist dorthin gegangen, wo sein Vater hingegangen ist, und so weiter. Wenn man einen neuen Laden aufmachen will, dann in einer Gegend, wo die Leute noch nicht so festgefahren sind.«
    »Es waren also vier verschiedene Geschäfte in weniger als sieben Jahren.«
    »Ja. Es ist eins dieser schwarzen Löcher. Die gibt es in jedem Block. Der eine Laden, der niemals läuft.« Sie schlug sich schnell die Hand vor den Mund, in der sie immer noch das Wachspapier zum Einpacken hielt. »Tut mir leid, Mr. Bethany,
ich bin sicher, Sie bringen ihn zum Laufen mit Ihrem kleinen, mm …«
    »Tinnef?«
    »Wie bitte?«
    »Ach nichts.« In einer deutschen Bäckerei, in der sie »jüdisches« Roggenbrot verkauften, ohne Ironie oder Erklärung, war es wahrscheinlich zu viel verlangt, dass sie das verstanden, erst recht nicht den selbstzerfleischenden Hohn in Daves

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