Was die Toten wissen
auf der Woodlawn Avenue noch mehr Betrieb als sonst, die Leute gingen pausenlos beim Friseur und in der Bäckerei ein und aus. Die bevorstehende Wiederauferstehung Jesu erforderte anscheinend frische Milchbrötchen und ausrasierte Nacken, wenigstens für diejenigen in Baltimore, die die Haare noch kurz trugen. Außerdem gab es ein Frühlingsfest in der Grundschule mit den gleichen Spielen wie eh und je – mit Zuckerwatte und Goldfisch-Preisen, wenn man es schaffte, mit einem Pingpong-Ball in ein Fischglas zu treffen. In dieser Stadt verändert sich so schnell nichts , dachte Dave, der ewige Außenseiter in seiner eigenen Heimatstadt. Er hatte die ganze Welt bereist, wild entschlossen, anderswo zu leben, ganz gleich wo, war jedoch wieder hier gelandet. Als er den Laden aufmachte, hatte er sich ausgerechnet, vielleicht die Welt nach Baltimore bringen zu können, aber Baltimore wollte nichts davon wissen. Von all den Leuten auf dem Bürgersteig war kein Einziger stehen geblieben und hatte seine Auslage betrachtet, und hereingekommen war erst recht keiner.
Jetzt, kurz vor drei nach der »Zeit-für-einen-Haarschnitt«-Uhr im Friseurladen gegenüber, wusste Dave nicht mehr, wie er sich noch beschäftigen sollte. Wenn er nicht versprochen hätte, Heather und Sunny aus der Mall abzuholen, hätte er vielleicht für heute einfach Schluss gemacht. Was aber, wenn just in dieser letzten Geschäftsstunde ein Kunde mit Geschmack und entsprechendem Geldbeutel auf die Idee käme, ganz viel einkaufen zu wollen, und er diese Gelegenheit verpassen
würde? Miriam malte sich dieses Szenario immer wieder besorgt aus. »Es braucht nur ein einziges Mal«, sagte sie dann. »Ein einziges Mal versucht jemand, die Tür zu öffnen, die offen sein sollte, und damit hast du nicht nur den betreffenden Kunden, sondern gegebenenfalls auch seine oder ihre Weiterempfehlung an andere verloren.«
Wenn das Ganze nur wirklich so einfach gewesen wäre, wenn man bloß früh anfangen, spät gehen und jede Minute dazwischen hart hätte arbeiten müssen. Miriam merkte gar nicht, wie rührend und naiv ihre Ansichten waren. Sie glaubte immer noch daran, dass Morgenstund Gold im Mund hat und, was lange währt, endlich gut wird, an all diese Sprüche. Andererseits wäre sie ohne diese Gutgläubigkeit wahrscheinlich nicht so bereitwillig auf seinen Plan eingegangen, einen eigenen Laden aufzumachen. Immerhin hatte er seine Festanstellung als Bundesangestellter dafür aufgegeben, eine Stelle auf Lebenszeit. In letzter Zeit fragte er sich, ob Miriam vielleicht insgeheim dachte, dass sie so oder so von dieser Entscheidung profitieren würde. Der Laden würde sie beide entweder reich machen oder ihr etwas in die Hand geben, was sie Dave ihr Leben lang vorhalten konnte. Sie hatte ihm eine Chance gegeben, und er hatte es vermasselt. Von nun an würde in allen Auseinandersetzungen zwischen ihnen der unausgesprochene Vorwurf herauszuhören sein: Ich habe an dich geglaubt/du hast es vermasselt . Hatte sie von Anfang an gehofft , dass er versagen würde?
Nein, so machiavellistisch war sie nicht, dessen war er sich sicher. Miriam war die ehrlichste Haut, der Dave je begegnet war, immer bereit, Lob und Anerkennung zu verteilen, wenn es angebracht war. Sie hatte stets zugegeben, dass sie den Wert des Hauses in der Algonquin Lane verkannt hatte, ein verwinkeltes, heruntergekommenes Holzhäuschen, das wiederholt architektonischen Fehlgriffen zum Opfer gefallen war – es hatte beispielsweise ein kuppelförmiges Dach und einen Wintergartenanbau.
Dave hatte das Haus entkernt und alle Schnörkel entfernt, sodass es sich nun in den riesigen, verwilderten Garten einfügte. Alle Besucher waren immer hellauf begeistert von Daves Auge für schöne Details, zeigten auf Gegenstände, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte, und wollten wissen, wie teuer sie gewesen seien, erzählten dann, dass sie das Fünf-, Zehn-, Zwanzigfache dafür bezahlen würden, wenn er nur einen Laden aufmachte.
Dave hatte ihr Gerede für bare Münze genommen. Er tat es immer noch. Diese Komplimente konnten nicht nur nett gemeint gewesen sein, weil Dave nicht der Typ war, dem man mit überschwänglichem Feingefühl begegnete. Ganz im Gegenteil – er hatte die unverblümte Wahrheit immer regelrecht herausgefordert, Aggressionen, die als Offenheit getarnt daherkamen.
Bei ihrem allerersten Date hatte Miriam zu ihm gesagt: »Also, ich sag’s ja nicht gern …«
Er war an diese Eröffnungen gewöhnt und
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