Was die Toten wissen
müssen. Aber bereits zwei Tage, nachdem sie aus dem Zug gestiegen war, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, irgendwo anders zu leben. Sie hatte in Cuernavaca ihre restlichen Sachen geholt und alles, was sie in den Staaten besaß, verkauft. Als sie ihr kleines Häuschen, ihre casita , kaufte, fing sie mit einem Bett und mit dem, was sie am Leib trug, neu an. Auch heute besaß sie kaum wesentlich mehr. Sie genoss es, in einem kargen, leeren Raum ohne Chaos aufzuwachen, umgeben von weiß gekalkten Wänden und wehenden reinweißen Vorhängen. Die spärlichen Möbel waren aus Kiefernholz, die Saltillo-Fliesen auf dem Boden unbedeckt. Das Einzige, was Farbe in Miriams Wohnräume brachte, waren das Geschirr und die Schüsseln in leuchtenden Blau- und Grüntönen, reduzierte Ware aus dem Laden. Wenn sie beschließen sollte, noch einmal umzuziehen, wäre sie innerhalb von ein, zwei Tagen all ihre Sachen wieder losgeworden. Sie hatte nicht die Absicht, noch einmal umzuziehen, aber es gefiel ihr, so frei zu sein.
Das Haus in der Algonquin Lane war dagegen bis obenhin vollgestopft gewesen. Es platzte fast aus allen Nähten. Zuerst hatte es Miriam nichts ausgemacht. Das meiste davon gehörte ohnehin den Mädchen. Kinder hatten immer viel Zeug – Spielzeug, Mützen und Handschuhe, Puppen und Plüschtiere und diese scheußlichen Plastik-Schlümpfe, und dann war da noch Heathers Schmusedecke namens Bud, deren zeitweiliges Verschwinden das gesamte Haus in Aufruhr versetzt hatte. Die unübertreffliche Sunny wiederum hatte einen imaginären Freund, einen Hund namens Fitz. Seltsamerweise verschwand Fitz genauso häufig wie Bud. Tatsächlich war Fitz jedes Mal unauffindbar, wenn Bud verschwunden war, wenn nicht sogar noch häufiger, und Fitz war noch viel schwerer zu finden. Sunny stampfte dann immer die Treppe hoch und runter und berichtete finster, wo er überall nicht war. »Nicht im Keller.« »Nicht im Bad.« »Nicht in deinem Bett.« »Nicht unter der Spüle.« Für einen eingebildeten Hund beanspruchte Fitz eine ganze
Menge Aufmerksamkeit. Sunny stellte ihm Essen hin und wollte nicht einsehen, dass sie damit Schaben und Mäuse ins Haus lockte. Sie ließ die Hintertür offen stehen, damit Fitz rauskonnte. An manchen Regentagen war Miriam, als ob es nach nassem Hund rieche.
Das Haus in der Algonquin Lane brachte seinen eigenen Ballast mit sich, wie sich herausstellen sollte. Sie hatten es bei einer Auktion ersteigert. Miriam und Dave war klar, dass niemand für den Zustand der Leitungen und Rohre garantieren konnte, dass es ein bisschen was von einem Pokerspiel hatte. Was sie damals nicht bedacht hatten, war, dass das Haus bei der Übergabe nicht im Geringsten geräumt sein würde. Eine ältere Dame hatte über viele Jahre in dem Haus gewohnt, und es kam ihnen so vor, als ob deren Leben ganz abrupt geendet hätte. So als ob Außerirdische bei ihr eingedrungen wären und sie kurzerhand mitgenommen hätten. Auf dem Tisch stand noch eine Tasse nebst Unterteller, ein Löffel lag bereit für eine Kanne Tee, die niemals zubereitet wurde. Auf der Treppenstufe lag ein Buch, das vermutlich nach oben geschafft werden sollte. Die Schonbezüge auf den alten Möbeln waren zum Teil heruntergerutscht und schienen nur auf eine behutsame Hand zu warten, die sie wieder glatt zog. Es erinnerte Miriam an das vollautomatisierte Haus in dieser Bradbury-Geschichte »Sanfte Regen werden kommen«. Darin war die Familie verschwunden, aber das Haus lebte weiter.
Anfänglich waren die Dinge, die zurückgeblieben waren, so etwas wie ein Zugewinn, ein unerwartetes Geschenk gewesen. Einiges an Möbeln war durchaus noch brauchbar, und das Geschirr war sogar wertvoll – Lowestoft-Porzellan, viel zu gut für den alltäglichen Gebrauch, noch netter als Miriams gutes Geschirr. Im Garten hinterm Haus fanden die Mädchen die Überreste vom silbernen Teeservice, das an den seltsamsten Orten versteckt war – zwischen den knorrigen Wurzeln der alten Eiche und unter den Fliederbüschen, wo es ein wenig Rost
angesetzt hatte. Aber die geborgenen Schätze wurden bald zur Last. Warum hatte man so viel zurückgelassen? Sie hatten bereits zwei Monate in dem Haus gewohnt, als eine pflichtbewusste Nachbarin ihnen freundlicherweise mitteilte, dass die Vorbesitzerin von ihrem Neffen und einzigen Erben in der Küche ermordet worden wäre.
»Deshalb ist es versteigert worden«, sagte Tillie Bingham, die Nachbarin. »Sie ist tot, und er sitzt im Knast. Deshalb konnte er das
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