Was die Toten wissen
lass ich mir doch lieber die Kohle in den Arsch schieben.«
»Na, dann bist du nicht nur eine Schwuchtel, sondern auch noch eine Nutte.«
Infante schnappte sich pfeifend seine Schlüssel und zog höchst zufrieden von dannen.
Kapitel 12
»Buenos días, Señora Toles.«
Miriam fischte die Schlüssel aus ihrer zerbeulten Lederhandtasche und schloss die Tür zum Laden auf. Es gefiel ihr, wie »Toles« auf Spanisch klang – To-less , nicht so einsilbig und abgehackt wie im Englischen.
»Buenos días, Javier.«
»Hace frío, Señora Toles.« Javier rieb sich die nackten Arme. Er hatte eine Gänsehaut. In Baltimore hätte man solch einen Märztag als Geschenk des Himmels betrachtet, ganz zu schweigen von Kanada, aber für San Miguel de Allende war es kühl.
»Vielleicht kriegen wir Schnee«, sagte sie auf Spanisch, was Javier zum Lachen brachte. Er war einfach gestrickt und lachte bereitwillig über alles Mögliche, aber für dieses ungezwungene Lachen war Miriam sehr dankbar. Früher einmal war ihr Humor das, was sie auszeichnete. Heute kam es nur noch selten vor, dass sie jemanden zum Lachen brachte, was sie wunderte, denn Miriam fand, dass ihr der Humor nicht ausgegangen war. Sie war eigentlich immerzu belustigt, was wohl an ihrem Galgenhumor lag, aber ihr Grundtenor war von jeher immer schon eher zynisch gewesen, auch dann, wenn Zynismus gar nicht angebracht war.
Javier hatte einen Narren an der Galerie gefressen und an Miriam ebenso, gleich von Anfang an. Er war damals noch ein Teenager gewesen und hatte den Bürgersteig vor dem Laden abgespritzt, die Fenster geputzt, ohne dass ihn jemand dazu aufforderte, und den turistas im Stillen anvertraut, dass es el mejor sei, der beste Laden in ganz San Miguel de Allende. Joe Fleming, der Besitzer, betrachtete Javier mit gemischten Gefühlen. »Mit seinem Schielen und dem Wolfsrachen schreckt er bestimmt genauso viele Kunden ab, wie er anschleppt«, beschwerte er sich bei Miriam. Aber sie mochte den jungen Mann, dessen Zuneigung zu ihr anscheinend viel tiefer saß und sich nicht nur mit den Trinkgeldern erklären ließ, die sie ihm zusteckte.
»¿Ha visto nieve?« Haben Sie schon mal Schnee gesehen, Señora Toles?
Miriam dachte an ihre Kindheit in Kanada, an die endlosen Winter, die ihr vorkamen, als ob ihre Familie aus angenehmeren Gefilden dorthin verbannt worden wäre. Auf ihre Frage, warum ihre Eltern aus England nach Kanada ausgewandert waren, hatte sie nie eine befriedigende Antwort erhalten.
Der Schneesturm in Baltimore 1966 fiel ihr wieder ein, ein außergewöhnliches, schon fast legendäres Naturereignis. Es war Sunnys sechster Geburtstag gewesen, und sie waren mit sechs anderen kleinen Mädchen aus ihrer Klasse in die Stadt ins Kino gefahren, wo The Sound of Music lief. Als sie hineingingen, war es noch sonnig und wolkenlos gewesen. Gut zwei Stunden später – die Nazis waren besiegt und die Welt wieder sicher für singende Familien – traten sie aus dem Kino und erkannten ihre Umgebung nicht mehr wieder. Alles war fast völlig zugeschneit. Sie und Dave kämpften sich durch die Straßen Baltimores und lieferten jedes Mädchen persönlich zu Hause ab. Sie mussten sie tragen, damit sich die Kleinen nicht die feinen Schuhe ruinierten, und übergaben sie an die besorgten Mütter und Väter, die bereits wartend in der Tür standen. Später hatten sie darüber gelacht, aber zu dem Zeitpunkt war es beängstigend gewesen, wie der alte Kombi mit den kreischenden Mädchen hintendrin durch die Straßen geschlingert war. Im Nachhinein empfanden es Sunny und Heather natürlich als ein tolles Abenteuer. Nur wenn alles gut ausging, redete man von einem Wunder. Dann durchlebte man gerne noch mal etwas Schreckliches und tat so, als wäre es bloß aufregend gewesen.
»Nein«, wandte sie sich Javier zu. »Ich habe noch nie Schnee gesehen.«
Sie griff ständig zu irgendwelchen Notlügen, das war einfacher. In Mexiko musste man weniger lügen als dort, wo sie zuvor gewohnt hatte, weil es voll von Leuten war, die etwas hinter sich lassen wollten. Sie nahm an, dass alle Auswanderer gleichermaßen logen.
Miriam war 1989 für ein Wochenende nach San Miguel de Allende gekommen und im Grunde genommen seitdem nicht mehr weg gewesen. Eigentlich hatte sie nach einer Stadt mit weniger amerikanischen Touristen Ausschau gehalten, nach einer, in der das Leben preiswerter gewesen wäre, wo sie ausschließlich von ihren Ersparnissen hätte leben können und
nicht hätte arbeiten
Weitere Kostenlose Bücher