Was die Toten wissen
aushalten. Da gibt es viel zu viele Vorschriften. Damit komme ich nicht klar, damit, dass mir andere sagen, was ich zu tun habe.«
»Das trifft auf Notfallunterkünfte zu, die die Betten nach dem Wer-zuerst-kommt-Prinzip vergeben. Aber es gibt auch andere Einrichtungen. Nicht viele, aber ich könnte ein paar Telefonate führen …«
»Das bringt nichts. Ich bin gewohnt, alleine zu leben.«
»Sie haben nie mit jemandem zusammengewohnt? Ich meine, seitdem …«
»Seit ich von der Farm weg bin? Oh, ich habe schon ein, zwei Mal mit einem Mann zusammengelebt. Aber das ist nichts für mich.« Sie lächelte schief. »Ich habe Probleme mit allzu großer Nähe. Wen wundert das!«
»Demnach waren Sie in psychotherapeutischer Behandlung?«
»Nein.« Es klang empört, beleidigt. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich habe es einfach nur vermutet … Ich meine, die Ausdrücke, die Sie gebrauchen. Und nach allem, was Sie durchgemacht haben, würde es irgendwie passen …«
Heather setzte sich auf die Veranda, und obwohl Kay die Kälte und Feuchtigkeit bereits durch ihre Schuhe hindurch spürte, erschien es ihr richtig, sich zu ihr zu setzen und nicht über ihr zu ragen.
»Was sollte ich einem Seelenklempner schon erzählen? Und was sollte ein Seelenklempner mir erzählen? Mir wurde mein Leben weggenommen, da war ich noch nicht mal ein Teenager. Meine Schwester ist vor meinen Augen umgebracht worden. Ich finde tatsächlich, das habe ich ganz gut gemeistert. Bis vor zweiundsiebzig Stunden war mein Leben noch in Ordnung.«
»Und mit in Ordnung meinen Sie …«
»Ich hatte eine Stelle. Nichts Berauschendes oder besonders Eindrucksvolles, aber ich habe meine Arbeit immer gut gemacht und konnte meine Rechnungen bezahlen. Wenn am Wochenende schönes Wetter war, ging ich Rad fahren. Wenn das Wetter schlecht war, habe ich mir ein anspruchsvolles Rezept aus einem Kochbuch rausgesucht und versucht, es nachzukochen. Dabei habe ich ebenso viele Niederlagen wie Erfolge erlebt, aber das ist Teil des Lernens. Ich habe Filme ausgeliehen, Bücher gelesen. Ich war – glücklich kann man es nicht nennen. Das habe ich bereits vor langer Zeit aufgegeben.«
»Zufrieden?« Kay dachte daran, wie viel Selbstmitleid sie nach ihrer Scheidung gehabt hatte, wie sie mit Wörtern wie unglücklich , traurig , deprimiert nur so um sich geworfen hatte.
»Das ist näher dran. Nicht unglücklich zu sein, darauf kam es mir an.«
»Das klingt so traurig.«
»Ich lebe. Das ist mehr, als man von meiner Schwester behaupten kann.«
»Aber was ist mit Ihren Eltern? Haben Sie je darüber nachgedacht, wie es ihnen ergangen ist?«
Heather klopfte mit zwei Fingern gegen die geschürzten Lippen. Kay war diese Geste schon zuvor aufgefallen. Es sah fast aus, als ob die Antwort in ihrem Mund parat lag, aber sie wollte erst einmal die möglichen Konsequenzen abwägen.
»Kann dies unter uns bleiben?«
»Ich weiß nicht, wie die rechtliche Seite aussieht. Da habe ich keinen Einfluss …«
»Nein, ich weiß natürlich, dass Sie vor Gericht zu einer Aussage gezwungen werden können. Aber ich gehe nicht davon aus, ein Gericht von innen zu sehen. Gloria meint, ich müsste noch nicht mal vor eine Anklagejury treten. Mal unter uns, von Frau zu Frau, kann dies unter uns bleiben?«
»Meinen Sie, ob Sie mir trauen können?«
»So weit würde ich nicht gehen.« Heather bemerkte sogleich, dass sie verletzend, abweisend gewesen war. »Kay, ich traue niemandem. Wie könnte ich wohl? Aber mal ehrlich, bin ich nicht tatsächlich eine Erfolgsgeschichte auf meine eigene kaputte Art? Allein die Tatsache, dass ich jeden Tag aufstehe und atme und mich ernähre und zur Arbeit gehe und meine Aufgaben erledige und nach Hause komme und den Mist im Fernsehen anschaue und am nächsten Tag wieder aufstehe und von vorn anfange und nie jemandem etwas getan habe« – hier begannen ihre Lippen plötzlich zu zittern -, »nie jemandem absichtlich etwas getan habe.«
»Dem Kind bei dem Unfall geht es gut. Kein Hirnschaden, nichts an der Wirbelsäule.«
»Kein Hirnschaden«, wiederholte Heather bitter. »Nur ein gebrochenes Bein. Oh Mann!«
»Woran der Vater mindestens ebenso schuld ist, wenn nicht überhaupt. Stellen Sie sich sein Leid vor.«
»Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer, mich in das Leid von anderen hineinzuversetzen. Wenn ich die Leute bei der Arbeit davon reden höre, was sie als leidvoll oder problematisch empfinden, zerreißt es mich fast, dann wünsche ich mir
fast, dass
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