Was die Toten wissen
dem Bildschirm im Ruhezustand eine Andy-Diashow ablief. Andy als winziges Baby auf dem Arm seines riesengroßen Vaters. Andy beim Essen, Andy mit Bilderbuch, Andy, wie er zum Weihnachtsbaum schielt. Das Gesicht des Jungen und der massive Körper waren eindeutig auf den Vater zurückführen, aber Kevin bildete sich ein, in dem schrägen
Blick Nancys Skepsis zu erkennen. Ihr wollt damit sagen, es gibt da diesen Typen, und er kommt und bringt mir Geschenke? Was springt denn für ihn dabei raus? Und was zum Teufel hat der Baum mit alldem zu tun?
»Die Unterlagen aus Pennsylvania sind totaler Schrott.« Nancy bewegte den Cursor, sodass Andy verschwand und eine gespeicherte Webseite erschien. »Oder ich kapiere nicht, wie man an die Daten rankommt. In Maryland brauche ich nur die Adresse und den Bezirk einzugeben, und ich bekomme die Grundstückseigentümer angezeigt, auch frühere. Für Pennsylvania habe ich noch keine entsprechende Seite gefunden. Der einzige Treffer zu der Adresse, die du mir gegeben hast, weist darauf hin, dass es einer LLC gehörte, die das Grundstück vor ein paar Jahren verkauft hat.«
»Einer LLC?«
»Einer Personengesellschaft, ein Kleinunternehmen, Mercer Inc. Könnte alles Mögliche gewesen sein, von einem Marktstand über einen Reinigungsservice. Aber in unseren Personalakten findet sich kein Mercer. Also muss es der Vorbesitzer sein, nach dem wir suchen.«
Nancy war hellhäutig und hatte auch schon vor der Schwangerschaft ansehnliche Rundungen gehabt. Jetzt sei sie richtig fett, behauptete sie gern, aber das schien sie nicht weiter zu beunruhigen. Als sie wieder anfing zu arbeiten, hatte sie um Versetzung in die Abteilung für alte, unaufgeklärte Fälle gebeten, eine Entscheidung, die Infante insgeheim verachtete. Es musste furchtbar langweilig sein, sich in die alten Fälle hineinzuknien und auf glückliche Zufälle zu hoffen – auf den Zeugen, der endlich bereit war, mit der Wahrheit herauszurücken nach all den Jahren, den Ehepartner, der es satthatte, ein Geheimnis mit sich herumzutragen. Er konnte sich zwar gut vorstellen, dass sie als Mutter eines Kleinkindes eine geregelte Arbeitszeit schätzte, aber er war sich nicht sicher, ob man das als echte Polizeiarbeit betrachten konnte. Nancy konnte jedoch
ganz gut mit dem Computer umgehen, und sie hatte einen untrüglichen Sinn dafür, etwas herauszufinden, ohne von ihrem Schreibtisch aufzustehen. Die Göttin der kleinen Dinge, wie Lenhardt sie einmal genannt hatte, spürte nun die kleinsten Datenschnipsel auf, so wie sie einst auf hundert Schritte Entfernung eine Patronenhülse entdecken konnte. Es passierte höchst selten, dass sie einmal nicht weiterkam, aber das Dokumentationssystem Pennsylvanias hatte sie nun doch aus der Bahn geworfen.
»Wahrscheinlich ein Schuss in den Ofen«, sagte Infante, während Nancy die Karte anklickte und ihm die Stelle zeigte. »Aber ich fahr trotzdem mal hin, schau’s mir an und befrag die Nachbarn.«
»Das ist dreißig Jahre her. Wenn sie wirklich 1981 dort weg ist, sind es immer noch vierundzwanzig. Wohnt denn überhaupt jemand so lange an ein und demselben Ort?«
»Einer reicht ja. Am besten ein neugieriger alter Naseweis mit einem glasklaren Gedächtnis und einem Fotoalbum.«
Kevin fuhr nach Norden und staunte über den Verkehr mitten am Tag, der nach Süden rollte. Lenhardt wohnte in dieser Gegend, und er beschwerte sich ständig über die Last des Pendlerdaseins. Er sprach davon, als sei es ein Krieg, ein täglicher Kampf. Und warum machst du’s dann? , fragte Infante, wenn er es nicht mehr hören konnte. Er bekam die üblichen Antworten – die Kinder, die Schulen, alles Probleme, von denen ein freier Mann keine Vorstellung hatte.
Beinahe hätte er die aber gekriegt. Bei seiner ersten Frau war er noch einmal mit dem Schrecken davongekommen. Zumindest hatten sie es beide im Nachhinein so gesehen, als sich herausstellte, dass sie doch nicht schwanger war. Ein Schrecken, eine Bedrohung war abgewendet worden. Damals hatte er es nicht wirklich so empfunden, erst später, als die Ehe auseinanderging. Tatsächlich hatte er sich anfangs sogar ein bisschen
darauf gefreut gehabt und schon mal die Vaterrolle ausprobiert und dabei festgestellt, dass sie ihm gar nicht so schlecht stand. Tabitha war diejenige gewesen, die Schiss gekriegt hatte und sich Sorgen um ihren neuen Job bei einem Hypothekenmakler machte. Deshalb bezeichneten sie es als Schrecken, und sie wurde daraufhin unnachgiebiger, was
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