Was die Toten wissen
nicht zur selben Zeit, als die Mädchen verschwanden? Dann muss er
es gewesen sein. Die Hoffnung, die die ganze Woche über auf Daves Schulter gesessen hatte, ließ sich wieder auf seiner Brust nieder und versenkte die Klauen darin.
Da sein Frühstück nur aus schwarzem Kaffee bestand, brauchte Dave nicht mehr als zwanzig Minuten, um die Zeitung zu lesen, die Tasse abzuspülen und sich oben umzuziehen. Es war noch nicht einmal sieben Uhr. Dreihundertvierundsechzig Tage des Jahres hielt er die Zimmertüren der Mädchen verschlossen, aber an diesem Tag öffnete er sie und unternahm einen kleinen Rundgang. Er fühlte sich wie Blaubart, nur umgekehrt. Wenn eine Frau jemals bei ihm einziehen würde – für ihn unvorstellbar, aber theoretisch möglich -, würde
er ihr verbieten, diese Räume zu betreten. Sie würde sich natürlich über ihn hinwegsetzen und sich heimlich hinter seinem Rücken hineinschleichen. Aber anstatt der Leichen seiner früheren Frauen würde sie Zeitkapseln vorfinden, in denen das Leben zweier Mädchen vom März 1975 konserviert war.
In Heathers rosa-weißem Zimmer umrundete Max aus Wo die wilden Kerle wohnen die Welt, entdeckte die Insel der wilden Kerle und schaffte es trotzdem noch rechtzeitig zum Abendessen nach Hause. Ein paar Teenie-Idole hatten es ebenfalls an die Wand geschafft, grinsende Jungs, die für Dave alle gleich aussahen. Daneben war Sunnys Zimmer durch und durch das eines Teenagers, nur ein Hauch von Kindheit hatte überlebt: An der Wand hing ihr Meeresbiologie-Projekt aus der sechsten Klasse, wofür sie mit viel Mühe ein Unterwasser-Szenario aus Kreuzstichen angefertigt hatte. Sie hatte dafür eine Eins bekommen, aber erst nachdem die Lehrerin Miriam ausgiebig befragt hatte, weil sie Sunny nicht zugetraut hatte, so etwas Diffiziles alleine zustande zu bringen. Dave hatte sich fürchterlich darüber aufgeregt, dass irgendjemand es wagte, die Begabung seiner Tochter in Frage zu stellen.
Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die verschlossenen, unberührten Zimmer seiner Töchter muffig und staubig gewesen wären, aber Dave kamen sie erstaunlich frisch und fröhlich vor. Es war gar nicht so abwegig, dachte er, als er sich mutig wie Schneewittchen erst auf das eine, dann auf das andere Bett setzte, dass die Mädchen eines Tages zurückkehrten und sich abends wieder in ihre Betten legten. Sogar die Polizei, die kurzzeitig in Erwägung gezogen hatte, Heather und Sunny seien vielleicht weggelaufen, hielt das für möglich. In der Tat, es war schon seltsam, dass Heather ihr gesamtes Geld für die Mall eingesteckt hatte, aber vielleicht war das der Auslöser des Unglücks gewesen. Es gibt Leute, die einem Kind für vierzig Dollar zu Leibe rücken, und als die Handtasche gefunden wurde, fehlte das Geld.
Natürlich fiel der Verdacht zunächst auf Dave, nachdem feststand, dass die Mädchen nicht ausgerissen waren. Willoughby hatte Dave bis zum heutigen Tage nicht eingestanden, wie peinlich und ungerecht diese Ermittlungsrichtung gewesen war, und noch weniger hatte er sich bei ihm dafür entschuldigt, dass so viel wertvolle Zeit dabei vergeudet worden war. Dave erfuhr in diesem Zusammenhang, dass Familienmitglieder bei derartigen Fällen immer zu den Hauptverdächtigen zählten, aber die besonderen Widrigkeiten in seinem Leben – die marode Ehe, der schlecht gehende Laden, die von Miriams Eltern angelegten Ausbildungsfonds – hatten die Anschuldigungen besonders abscheulich gemacht. »Sie glauben, ich hätte meine Kinder wegen des Geldes umgebracht?«, fragte er. Am liebsten wäre er Willoughby an die Gurgel gegangen. Der Kriminalkommissar hatte es nicht persönlich genommen. »Bisher glaube ich noch gar nichts«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Es gibt Fragen, und ich sammle Antworten. Sonst nichts.«
Bis heute wusste Dave nicht, welche Anschuldigung eigentlich schwerer wog: das finanzielle Motiv oder sie getötet zu haben, um seiner fremdgehenden Frau eins auszuwischen. Miriam hatte sich ach so nobel verhalten, ihr Geheimnis sofort vor den Cops gelüftet, aber ihr Geheimnis war natürlich zugleich auch das perfekte Alibi für sie und ihren Liebhaber. »Und was, wenn die beiden es getan haben?«, fragte Dave die Polizei. »Was, wenn sie es gewesen sind und es mir anhängen wollen, damit sie ungestört zusammen weglaufen können?« Aber er glaubte ja selbst nicht daran.
Es machte ihm gar nicht so viel aus, als Miriam ihn verließ, doch er verlor jeglichen Respekt vor ihr, als
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