Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
Vom Netzwerk:
sie dann auch noch aus Baltimore wegzog. Sie war aus der Wache ausgestiegen. Sie war nicht stark genug, mit der bohrenden, krallenden Hoffnung zu leben. »Sie sind tot, Dave«, sagte Miriam, als er sie vor über zwei Jahren das letzte Mal sah.

    »Das Einzige, was uns noch fehlt, ist die offizielle Bestätigung dessen, was wir schon lange wissen: nämlich dass es wahr ist. Das Einzige, woran wir uns noch klammern können, ist, dass es hoffentlich weniger grausam war, als wir es uns ausmalen. Dass sie jemand mitgenommen und erschossen hat oder sie ohne großes Leiden umgebracht hat. Dass sie nicht vergewaltigt wurden, dass …«
    »Sei still, sei still, sei still, SEI STILL!« Das war quasi das Letzte, was er zu Miriam gesagt hatte. Aber keiner von ihnen hatte das gewollt. Er entschuldigte sich, und sie entschuldigte sich, und das waren ihre letzten Worte. Miriam, die immer an Neuem interessiert gewesen war, hatte sich im Jahr zuvor einen Anrufbeantworter zugelegt. Manchmal rief er sie an und lauschte ihrer Nachricht, aber er hinterließ nie selbst eine. Er fragte sich, ob Miriam auch mithörte, ob sie abnähme, wenn sie seine Stimme hören würde. Wahrscheinlich nicht.
    Gemäß der Rechtsprechung von Maryland hätte er bereits 1981 die Mädchen für tot erklären lassen können. Dann hätte er auch Zugriff auf ihre College-Konten gehabt. Aber er hatte kein Interesse an ihrem Geld, und noch weniger war ihm daran gelegen, dass ein Gericht seine schlimmsten Befürchtungen verklausulierte. Er tastete das Konto nicht an. Das sollte allen eine Lehre sein.
    Vielleicht hat eine nette Familie die Mädchen zu sich genommen , flüsterte ihm der Hoffnungsgreif ins Ohr. Eine nette Familie, die beim Friedenscorps ist und mit ihnen nach Afrika gezogen ist. Oder sie haben sich unkonventionelleren Geistern angeschlossen, jüngeren Ausgaben von Kesey und den Prankstern, und sie ziehen gemeinsam durchs Land und machen das, was du wahrscheinlich auch gemacht hättest, ohne Kinder.
    Warum rufen sie dann nicht an?
    Weil sie dich hassen.
    Weshalb?
    Weil Kinder ihre Eltern immer hassen. Du hast deine gehasst.
Wann hast du das letzte Mal deine Mutter angerufen? Ein Ferngespräch kostet nicht die Welt.
    Sind das denn wirklich meine einzigen Alternativen? Lebendig, aber so voller Hass gegen mich, dass sie sich weigern, mich anzurufen? Oder voller Liebe zu mir, aber tot?
    Nein, das sind nicht die einzigen beiden Alternativen Es gibt noch die Möglichkeit, dass sie im Keller eines Irren angekettet sind, wo …
    Sei still, sei still, sei still, SEI STILL.
    Endlich war es Zeit, zur Blauen Gitarre zu fahren. Er machte den Laden zwar erst in drei Stunden auf, es gab bis dahin jedoch genug zu tun. Von all den Ironien des Schicksals war dies die schmerzlichste. Der Laden hatte vom Sog des enormen öffentlichen Aufsehens um seine Töchter profitiert und lief besser denn je. Ursprünglich waren die Leute nur gekommen, um einen Blick auf den trauernden Vater zu ergattern, fanden aber stattdessen die tüchtige und einfühlsame Wanda aus der Bäckerei vor. Sie hatte freiwillig ihre Zeit geopfert und war nicht davon abzubringen gewesen, so lange die Stellung zu halten, bis Dave wieder zur Arbeit kommen konnte. Die Schaulustigen wurden zu Käufern, und die Mund-zu-Mund-Propaganda lief so gut, dass das Geschäft seine bescheidenen Träume bei Weitem überschritt. Er hatte es sogar erweitert und nahm Kleidung und kleinere Haushaltswaren – Schubladengriffe, dekorative Wandteller – mit auf. Alles, was er aus Mexiko importiert hatte, lag inzwischen voll im Trend. Der geschnitzte Hase, den Mrs. Baumgarten so verschmäht hatte, für den sie sich nicht vorstellen konnte, siebzehn Dollar auszugeben – dafür hatte ein Museum in San Fransisco, das eine Völkerkundeabteilung plante, Dave tausend Dollar geboten. Es hatte die wertvolle Arbeit erkannt, die dahintersteckte – ein frühes, weniger ausgefeiltes Stück von einem der Künstler aus Oaxaca. Dave hatte es dem Museum stattdessen als Leihgabe vermacht.

    Er blieb auf der vorderen Veranda stehen und sog das Licht auf. Der Morgen war noch von einer bittersüßen Klarheit, die Bäume waren noch immer relativ kahl, die Uhren würden erst in ein paar Wochen auf die Sommerzeit umgestellt werden. Die meisten Leute begrüßten die Zeitumstellung, aber Dave hatte es immer schon für einen schlechten Tausch gehalten, die Stunde am Morgen zugunsten einer Stunde am Ende des Tages aufzugeben. Am Morgen war er zuletzt

Weitere Kostenlose Bücher