Was die Toten wissen
glücklich gewesen. Wenigstens annähernd. Er hatte damals versucht, glücklich zu sein, und sich ganz auf die Mädchen konzentriert, weil er wusste, dass Miriam etwas im Schilde führte – er war nur noch nicht bereit gewesen, sich vor Augen zu führen, was es war. Er hatte versucht, sich abzulenken, indem er den überaufmerksamen Vater mimte, und Heather hatte es ihm abgenommen, es ihm geglaubt. Sunny – Sunny ließ sich nicht so leicht etwas vormachen. Sie hatte gewusst, dass er nicht wirklich da war und seinen eigenen Gedanken nachhing. Hätte er nur nicht darauf bestanden, dass Sunny Heather mitnahm. Wenn nur – aber was sollte das eigentlich? War ihm eine tote Tochter lieber als zwei? Das war die Alternative in Sophies Entscheidung , nicht dass Dave das Buch von William Styron hätte lesen können, obwohl dessen Bekenntnisse des Nat Turner eines seiner Lieblingsbücher war. Für Styron bedurfte es des Holocausts, um das Schlimmste, was Eltern zustoßen konnte, zu erklären. Das Problem war, selbst das reichte nicht aus. Sechs Millionen Tote bedeuteten gar nichts im Vergleich zum eigenen Kind.
Er stieg in den alten VW-Bus, noch so ein Relikt, von dem er sich nicht trennen konnte. Der Hoffnungsgreif richtete den Blick seiner gallefarbenen Augen auf Dave und erinnerte ihn daran, sich anzuschnallen.
Wen interessiert es schon, ob ich lebe oder sterbe?
Niemanden , gab die Hoffnung zu. Aber wenn du tot bist, wer erinnert sich dann noch an sie? Miriam? Willoughby? Ihre alten
Klassenkameraden, von denen einige inzwischen das College abgeschlossen haben? Du bist alles, was sie haben, Dave. Ohne dich sind sie nicht mehr.
Kapitel 25
Miriam hatte eine heimliche Leidenschaft – Pekannuss-Joghurteis von I Can’t Believe It’s Yogurt . Sie redete sich gerne ein, dass es echter Joghurt war. Dabei wusste sie ganz genau, dass das Zeug nicht unbedingt so gesund war, wie manche meinten, und dass die Kalorien darin genauso ins Gewicht fielen. Miriam nahm zwar nicht alles ab, was in den Werbesprüchen von I Can’t Believe It’s Yogurt versprochen wurde. Aber das Eis schmeckte ihr, und sie war arg in Versuchung, dafür einen kleinen Umweg zu machen. Es war warm, heiß wie im Sommer, sogar für texanische Verhältnisse; so heiß, dass ein Nachmittag im Barton-Springs-Pool überaus gerechtfertigt erschien. Miriam überlegte, den Nachmittag freizunehmen und genau dies zu tun, oder an den See rauszufahren, aber sie hatte zwei Termine mit potentiellen Verkäufern in Clarksville.
Allein die Tatsache, dass sie auch nur eine Minute überhaupt daran gedacht hatte, zum öffentlichen Freibad zu fahren, irritierte sie. Sie hatte sich wirklich hier eingelebt. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie bald in den hiesigen Lobgesang einstimmen: »Aber du hättest erst mal hier leben sollen, als …«, in das endlose Gejammere, wie schön, glücklich, erschwinglich Austin einst war. Dann war da noch die Beschwörung der Lokalitäten, die es einmal gegeben hatte – das Armadillo, das Liberty Lunch. Das Look in der Guadalupe Street, wo sie heute keinen Parkplatz fand. Sie musste das Joghurteis ausfallen lassen und zu ihrem Termin weiterfahren.
Plötzlich überlief sie ein Schauer, und sie ging ihre Gedanken noch einmal durch, um herauszufinden, was sie bange gemacht
hatte. Parken – Austin – Barton Springs – der See . Letzten Herbst hatte es dort einen Mord gegeben, zwei Mädchen waren tot auf einem teuren Baugrundstück aufgefunden worden. Zwei Mädchen, keine Schwestern, aber bereits das bloße Zusammentreffen erregte ihre Aufmerksamkeit. Und auch hier fehlte jegliches Motiv. Miriam, die im Zwischen-den-Zeilen-Lesen der Berichte geübt war, war sofort klar, dass es tatsächlich keine Anhaltspunkte für die Polizei gab, aber ihre Bekannten hatten aus den geringsten Anzeichen die abenteuerlichsten Verschwörungstheorien konstruiert. So wie im Fernsehen musste es auch hier eine Erklärung dafür geben. Viele stellten einen Zusammenhang zwischen den Morden und dem schnellen Wachstum der Stadt her. Die Mädchen waren Einheimische gewesen, Motorradbräute, die in der Gegend aufgewachsen waren. Zeitungsberichten zufolge hatten sie schon seit langem in der Nähe vom Lake Travis Partys gefeiert und damit auch nicht aufgehört, als dort ein Haus errichtet werden sollte. Miriam vermutete, dass die Mädchen von einem ihrer zwielichten Kumpel ermordet worden waren, aber die Polizei hatte den Grundbesitzer und die Bauarbeiter auf dem Gelände
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