Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
Vom Netzwerk:
Landezone zu bewachen, falls wir das Schlitzauge da rausholen lassen wollten. Und glauben Sie mir, keiner wollte zurückbleiben, nicht einer, nicht an diesem Ort.«
    Ich konnte das Bedürfnis des Lieutenants gut verstehen, wissen zu wollen, ob der NVA -Soldat sowieso sterben würde. Solange er lebte, sagte die Ethik, bringt ihn da raus, aber das brachte eine Hubschrauberbesatzung in Gefahr, den Trupp zur Verteidigung der Landezone, und wofür? Wenn der Kerl in zwei Tagen sowieso starb? Für ein Leben im Schlimmstzustand? Es ist sehr schwer zu sagen, wann man moralisch und formal für das Leben eines Gefangenen verantwortlich wird, immer angesichts des Umstands, dass solche Entscheidungen auch das Leben der eigenen Leute in Gefahr bringen können. Ihn jedoch einfach sterbend zurückzulassen, konnte tagelange Qualen für den Verwundeten bedeuten, und man war damit wirklich nicht mehr weit von einem Mord entfernt. Einen Gefangenen einfach zu erschießen, war ganz sicher falsch und hätte den Lieutenant für lange Zeit hinter Gitter bringen können.
    Doc Southern redete immer noch und starrte immer noch hinaus in die Finsternis. »Ich weiß noch, wie ich Brailier und den Louie angesehen habe. Ich hielt dem Kerl Teile seiner Bauchspeicheldrüse und des Magens fest, damit sie ihm nicht aus dem Leib rutschten, und versuchte, ihn für den Hubschrauber fertig zu machen, sollten sie sich denn dafür entscheiden, einen zu rufen. Ich versuchte, ihm die Schmerzen etwas zu lindern. Er war wirklich saumäßig dran. Man merkte, wenn was richtig wehtut, und dem Burschen, dem tat was weh.
    Dann war da dieser Moment, wissen Sie. Dieser Moment. Brailier sagte: ›Er stirbt.‹
    Mehr wollte der Louie nicht hören, er trieb die Leute zusammen und schickte sie los. Ich packte meinen Kram und wollte ihnen hinterher.« Er verstummte für eine Weile.
    »Aber Brailier verschwand noch für ein paar Minuten. Ich weiß nicht, ob er betete oder pinkeln musste, aber als er zurückkam, schoss er dem Mann direkt in den Kopf.«
    Danach sagten wir lange Zeit nichts. Ich habe Brailier nie danach gefragt.
     
    Fragen Sie den heute zwanzigjährigen Kriegsveteranen, den Sie an der Tankstelle treffen, was er beim Töten gefühlt hat. Seine wahrscheinlich wütende Antwort lautet, wenn er ehrlich ist: »Verdammt noch mal gar nichts.« Fragen Sie ihn, wenn er sechzig ist, und sollte er nicht zu betrunken sein, kommt womöglich etwas ganz anderes aus ihm heraus – aber nur, wenn er Glück hatte. Wer hat ihm während der vier langen Jahrzehnte nach seiner Rückkehr aus dem Krieg mit seinen Gefühlen geholfen? Es ist
entscheidend,
dass die jungen Leute, die aus der Schlacht zurückkehren, jemanden haben, der ihnen hilft, bevor sie bei Drogen und Alkohol landen oder sich umbringen. Wir können von normalen Achtzehnjährigen nicht erwarten, dass sie jemanden töten und diese Erfahrung auf gesunde Weise unter Kontrolle halten. Ihnen muss geholfen werden, herauszufinden, wie sie betrauern können, dass sie jemandem das Leben genommen haben. Ihre Trauer gehört zum Leid des Krieges. Drogen, Alkohol und Selbstmord sind Wege, vor der Schuld davonzulaufen, aus Angst vor der Trauer. Dabei ist Trauer eine gesunde Reaktion.

[zurück]
    3 Schuld
    Krieg ist die Antithese zur grundlegendsten Regel moralischen Verhaltens – dass man andere nur so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden will. Wenn wir zum Kampf gerufen werden, verletzen wir viele Kodizes zivilisierten Verhaltens. Um in der Nähe von Mars psychologisch zu überleben, muss man akzeptieren und sich damit arrangieren, die Grenzen normalen moralischen Verhaltens zu übertreten. Das verlangt, die Schuld anzunehmen, dass man andere Menschen tötet und versehrt.
    In
Die sieben Säulen der Weisheit
schrieb T.E. Lawrence:
    »Mancherlei Abstoßendes in dem, was ich zu erzählen habe, mag durch die Verhältnisse bedingt gewesen sein. Jahre hindurch lebten wir, aufeinander angewiesen, in der nackten Wüste unter einem mitleidlosen Himmel. Tagsüber brachte die brennende Sonne unser Blut in Gärung, und der peitschende Wind verwirrte unsere Sinne (…).
    Das unausgesetzte Kämpfen entäußerte uns der Sorge um unser eigenes Leben und das anderer. Um unseren Hals lag der Strick, und auf unsere Köpfe waren Preise gesetzt, die bewiesen, dass uns der Feind scheußliche Marter zugedacht hatte, wenn er uns fing. Täglich ging einer von uns dahin, und die Überlebenden sahen sich nur wie eben noch fühlende Puppen auf

Weitere Kostenlose Bücher