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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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Gottes Bühne … Der Ermattete beneidete die, die erschöpft genug waren, um zu sterben (…). Grausamkeiten, Verwirrungen, Lüste glitten über die Oberfläche dahin, ohne uns tiefer zu beunruhigen; denn die Sittengesetze, die gegen solcherlei unberechenbare Ausbrüche aufgerichtet schienen, mussten doch nur schwächliche Worte sein. Wir hatten erfahren, dass es Erschütterungen gab, die allzu übermächtig, Leid, das allzu tief, Ekstasen, die allzu hoch waren für unser sterbliches Ich, um überhaupt verzeichnet werden zu können. Wenn das Gefühl diesen Gipfel erreicht hatte, setzte das Gedächtnis aus, und der Verstand lief leer, bis Alltägliches uns wieder einholte.
    (…)
    Was jetzt wie Unmaß und Grausamkeit aussieht, erschien im Felde unvermeidlich oder gerade nur als eine unwichtige Formalität.« [11]
     
    Als ich in Vietnam Menschen tötete, habe ich mich niemals böse oder als Sünder gefühlt, und da ich protestantisch erzogen war, hätte ich jedes Schuldgefühl definitiv als solches erkannt. Zurück in den Vereinigten Staaten, hörte ich dann:
Jemand
hatte in Vietnam etwas ziemlich Schlimmes verbrochen, und dieser Jemand, das mussten wir gewesen sein, schließlich waren wir als Einzige dort gewesen.
    Eines Tages überredete mich meine Frau dazu, an einem für die 70 er-Jahre typischen therapeutischen Gruppenwochenende teilzunehmen. Das lag hauptsächlich daran, dass ich mich weigerte, über irgendetwas emotional Aufgeladenes zu sprechen, ob in Bezug auf den Krieg oder etwas anderes. Während des Wochenendes wurde ich aufgefordert, im Rahmen eines Rollenspiels mit der Mutter und der Schwester des NVA -Soldaten zu reden, den ich getötet hatte, als er die Handgranate nach mir warf. Sie werden sich daran erinnern, dass wir uns in die Augen gesehen hatten. Ich hatte den Menschen in ihm erkannt, und mir war in jenem Augenblick bewusst, dass er jung und genauso in Panik war wie ich. Dann versuchte er, mich zu töten, aber ich kam ihm zuvor. Ich weiß heute, dass ich weit schrecklichere Dinge getan habe: Ich habe Menschen mit Napalm verbrannt und mit »Willy Pete«-Granaten beschossen, weißem Phosphor, der sich nicht löschen ließ und tiefe Löcher in die Körper brannte. Aber dieser eine Fall war der schwierigste, weil ich in allen anderen in einer Verfassung gewesen war, in denen meine Gegner einer anderen Spezies angehörten. Das war eher wie das Töten von Tieren, schlimm genug, aber nicht mit derartigen Schuldgefühlen verbunden. Sie waren »der Feind« – in diesem einen Fall aber hatte ich einen Menschen getötet.
    Der Leiter der Therapiegruppe trug mir auf, mich bei der vorgestellten Mutter und Schwester des Getöteten dafür zu entschuldigen, dass ich ihren Sohn und Bruder umgebracht hatte. Ein Teil von mir ärgerte sich, dass er das vor einer Gruppe mir völlig fremder Leute tat. Natürlich hätte ich mich weigern können, aber nein: einmal ein Marine, immer ein Marine. Schon nach einer Minute begann ich zu schluchzen wie ein verängstigtes Kind. Eine ganze Flut schrecklicher Erinnerungen und Gewissensbisse brach aus mir hervor. Es war das erste Mal, dass ich etwas über mein Töten in Vietnam fühlte, zehn Jahre danach. An jenem Tag schluchzte und schniefte ich stundenlang und lief in den Wald, in dem ich als Kind immer Trost gefunden hatte. Meine Rippen schmerzten. Am nächsten Tag fing das Weinen erneut an, und so ging es über Tage, ja Wochen, jedes Mal für Stunden. Selbst bei der Arbeit traten mir die Gesichter von toten Freunden und verstümmelten Körpern beider Seiten vor Augen. Ich musste Entschuldigungen finden, um hinausgehen zu können, wo niemand sah, wie sehr ich bebte. Der Hals tat mir weh vom Zurückhalten der Schluchzer, während ich die Straße hinunterlief oder mich in der Ecke eines Parkhauses versteckte. Nach Monaten gab ich meine Arbeit auf und suchte mir etwas Neues. Das Weinen hörte zunächst auf, aber irgendwann war es wieder so weit.
    Die Therapiegruppe war gut gemeint gewesen, wusste aber, genau wie ich, zu wenig über PTBS , die posttraumatische Belastungsstörung. Ich war nie wieder in einer Therapiegruppe. Obwohl mich die Übung »mit meinen Gefühlen verband«, war das Ganze eine verheerende Erfahrung, da mir niemand half, auf gesunde Weise mit ihnen umzugehen. Jenes Wochenende löste nicht nur extrem emotionale PTBS -Symptome aus wie das ständige Weinen, sondern förderte eines meiner andauernden Probleme mit dem Krieg zutage, das Gefühl von Schuld. Musste

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