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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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wissen, warum du es jemandem zufügst. Kämpfer müssen ihre Seelen öffnen, denn zu ihrer Arbeit gehört das Töten von Menschen. Kämpfer handeln mit der Ewigkeit.
    Das wurde mir zum ersten Mal wirklich bewusst, als unsere Kompanie in einem kaum bekannten Gebiet mit dicht mit Dschungel überwucherten Bergen zum Einsatz kam, direkt unter dem äußersten westlichen Teil der demilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südvietnam. Am dritten Tag der Operation trafen wir auf einen Außenposten der NVA . Die Nordvietnamesen zündeten eine ferngesteuerte Mine, die in Hüfthöhe an einen Baum gebunden war und unseren Späher tötete. Der Junge hatte immer ein Bild von seiner ein Jahr jüngeren Freundin in der Brusttasche, die noch zur Highschool ging, als Glücksbringer. Das Stück Schrapnell, dass sein Herz stoppte, war genau durch ihr Gesicht geschlagen. Als ich ihm das Bild aus der Tasche zog, brannte sich mir dieses schöne, junge Gesicht ins Gedächtnis, zerrissen von genau dem Stahlsplitter, der das Herz ihres Freundes zum Stillstand gebracht hatte.
    Eine ganze Serie Feuergefechte entbrannte, unsere Gegner versuchten uns in Schach zu halten. Normalerweise floh die NVA vor dem unvermeidlichen Artilleriefeuer, das wir anfordern würden. Da musste etwas Besonderes auf dem Spiel stehen, und um zu sehen, was die Nordvietnamesen zu verteidigen versuchten, unternahmen wir mehrere Vorstöße in den Dschungel.
    Nach zwei Stunden heftiger Scharmützel und etlicher Artilleriesalven erreichten wir den Rand eines steilen Abhangs zu einem kleinen, idyllischen Tal. Wir folgten dem im Zickzack nach unten verlaufenden Weg und fanden bald unterirdische Bunker mit Unmengen Munition, Verpflegung und anderem Material, dazu ein halbes Dutzend großer, offener Verschläge mit Strohdächern, die dem Feind als Versammlungsräume, Messeräume und Ähnliches gedient hatten. Es gab einen kleinen Bach, der mitten durch das Camp floss, dazu kleinere Bunker mit Schlafstellen, in denen noch etliche persönliche Gegenstände lagen. Auf hastig verlassenen Kochstellen stand halb zubereitetes Essen, und in einem Bunker fand ich zwei halb leer gegessene Schalen Reis und eine rauchende Wasserpfeife aus Bambus, als wären die Bewohner nur kurz zur Toilette oder etwas besorgen gegangen. Das Ganze kam mir vor wie eine makabere Bambusversion von Brigadoon, dem Musical-Ort, der nur alle hundert Jahre in der realen Welt auftaucht.
    Doch meine Ewigkeitslehren waren noch nicht vorüber. Nachts versank alles in einem tiefen, schleichenden Nebel, den man scheinbar fühlen, aber nicht wirklich sehen konnte. Sämtliche Zugänge zum Tal waren von uns mit Hinterhalten versehen worden, und ich hatte gerade Doc Southern, einen der beiden Sanitäter unseres Zuges, bei der Funkwache abgelöst. Er blieb noch etwas, offensichtlich konnte er in dieser unheimlichen Szenerie nicht schlafen und wollte sich unterhalten, was mir durchaus zupasskam. Unser zweiter Sanitäter, Brailier, schlief im Bunker nebenan. Brailier war ein ruhiger Bursche, der seine Zeit in Vietnam bald schon hinter sich haben würde. Obwohl er erst zwanzig war, spürte ich immer etwas sehr Tiefes in ihm, etwas Tiefes und seltsam Beunruhigendes. Im Laufe unserer leisen Unterhaltung in jener Nacht fragte ich Southern auch nach Brailier. War er immer schon so gewesen?
    Doc Southern sah aus der Öffnung des Bunkers und begann zu erzählen, sehr leise, und seine sanfte Stimme vermischte sich mit dem Nebel, der vor dem schwarzen Loch hing.
    »Ich war noch neu im Zug«, sagte er und starrte in die Vergangenheit. »Wir waren nordwestlich von Con Tiên und seit ein paar Tagen immer wieder in die Scheiße geraten. Es kam zu diesem Feuergefecht von einer Anhöhe zur anderen. Niemand wurde getroffen, nur dieses eine Schlitzauge. Den Kerl hatte es fürchterlich erwischt, eine M 79 -Salve mitten in den Bauch. Es ließ sich kaum mehr sagen, was an ihm zu was gehörte. Das Rückgrat war so gut wie weg, der würde ein schreckliches Leben haben, falls er überleben sollte. Und das war das Problem, er lebte nämlich noch. Und wir wussten nicht, ob er in zwanzig Minuten, zwei Wochen oder zwei Jahren sterben würde.
    Der Louie [10] fragte Brailier ständig: ›Stirbt er? Stirbt er jetzt?‹ Wir waren alle nervös, weil wir da verdammt endlich wegkommen wollten. Wir steckten in der Scheiße, wie gesagt, mitten im verdammten Nirgendwo, und die Kompanie musste weiter. Das hieß, wir hätten einen Trupp zurücklassen müssen, um die

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