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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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sage Nein, aber wo ist das, was man »ich« nennt, und was ist daraus geworden, nach Monaten des Tötens, des Nichtschlafens und reinen Entsetzens? Was gibt am Ende den Ausschlag, wenn dieses Ich angesichts des längsten, fürchterlichsten Sturms seines Lebens aus Angst um die Mannschaft das Schiff verlässt und nur den einen abgespaltenen Kern zurücklässt, einen Kern, der in zu vielen von uns das primitive, wütende Kind ist?
    Was ein paar wenige dazu bringt, Massaker wie in My Lai zu verüben oder zu tun, was Mike getan hat, weiß ich nicht. Aber nach meinen eigenen Erfahrungen und als Vater von fünf Kindern kann ich nur sagen, dass ich keine harten, schnellen Urteile mehr fälle. Welcher Druck ist akzeptabel, bevor man ausrastet und sich von seiner Wut übermannen lässt? Wie kann man ein Urteil über einen anderen Menschen auf dieser Ebene fällen?
     
    Beim Massaker von My Lai drehten Lieutenant Calley, Captain Medina und ein paar andere einen Tag lang durch, genau wie Mike, genau wie ich. Das Ausmaß, in dem wir durchdrehten, ist unterschiedlich groß. Nehmen wir einmal an, wir säßen alle gemeinsam in einem gemütlichen Wohnzimmer und sähen uns ein Video an, auf dem ich Menschen erschieße, die wir wahrscheinlich auch hätten gefangen nehmen können, und Isle anschreie, den fliehenden Feind zu töten, oder noch schlimmer: Wir sähen Mike dabei zu, wie er den zu Brei geschlagenen Jungen kopfüber an den Fahnenmast hängt. Es würde für Leute, die etwas Ähnliches nie erlebt haben, so gut wie unmöglich sein, die Person im Video mit dem anscheinend normalen Individuum neben sich in Verbindung zu bringen. Selbst mir fiele es nicht leicht. Wir Veteranen wissen das. Vielleicht wünschen wir uns, es wäre nicht wahr, vielleicht hassen wir es, aber leugnen können wir es nicht. Das ist ein weiterer Faktor, der uns verstummen lässt.
    Nehmen wir an, Mike hätte den Jungen getötet. Deswegen wäre er kein anderer, seine Motive blieben dieselben, auch an seiner »Rotglut« würde sich nichts ändern. Sollte er lebenslang ins Gefängnis wandern, weil er in dieser besonderen Situation gelandet war und ihn die monatelangen Kriegserfahrungen schließlich zerbrechen und durchdrehen ließen? Ich fühle mich sehr unwohl, wenn ich unter Menschen mit einer überlegenen, selbstgerechten Haltung gerate, Menschen, die überzeugt sind, dass sie niemals hätten tun können, was Mike getan hat. Sicher, vielleicht ist es tatsächlich so, aber hätten sie vom ersten Tag an in Mikes Haut gesteckt, mit Mikes genetischen Prädispositionen, seinen Jugenderfahrungen mit dem Bösen, seinen Vietnam-Erfahrungen, hätten sie sich dann tatsächlich anders verhalten? Ist es möglich, dass sie die Macht und die Freiheit besessen hätten, anders zu handeln? Wenn uns die nächste Prüfung bevorsteht, können wir ihr nur mit dem Charakter und in der Verfassung gegenübertreten, die uns zu der Zeit prägen, und so gesehen sind wir nicht frei. Unsere Freiheit liegt in dem Umstand begründet, dass wir ständig daran arbeiten können, unseren Charakter zu verbessern.
    Natürlich können wir die Mikes dieser Welt nicht aus der Verantwortung entlassen, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Tat so wenig frei waren. Allein die Androhung einer Strafe für das Begehen derartiger Gräuel rettet wahrscheinlich vielen Gefangenen das Leben. Oft bietet sie gerade genug gesellschaftliche Struktur, um ein wackliges Ego vor dem Zusammenbruch zu bewahren, und im Krieg geraten Egos ziemlich ins Wackeln. Aber wenn wir Strafen verhängen, sollte unsere Haltung nicht selbstgerecht, sondern bedauernd sein. Gott sei Dank war ich nie in Mikes Lage.
     
    Die dritte Art Gräuel sind jene aufgrund gefallener Standards. Dazu kommt es nicht spontan und auch nicht allein unter dem Druck tatsächlicher Kampfhandlungen. Erinnern Sie sich, in meiner Geschichte über den Kampf ohne Schonung hatten wir uns bereits vorher entschieden, keine Gefangenen zu machen und den Feind nicht entkommen zu lassen. Ich hatte sogar einen speziellen Plan dafür ausgearbeitet, ich handelte eindeutig vorsätzlich. Wir haben darüber nicht abgestimmt, nicht darüber geredet. Wir wussten einfach, was wir tun würden: erschießen, was sich bewegte. Und das taten wir auch.
    Marines haben schon immer heftige Schlachten ohne Schonung geschlagen. Der Charakter ihrer klassischen Aufgaben als Stoßtrupps gegen schwierige Ziele bringt sie in Situationen, in denen es unzweckmäßig ist und oft sogar gefährlich,

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