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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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geschlachtet zu werden. Wenn er aufstand, um sich zu ergeben, warst du eher geneigt, ihn als Menschen zu betrachten, der genug hatte, genau wie du unter ähnlichen Umständen womöglich genug gehabt hättest. Aber wenn jemand eine andere Hautfarbe hat und einer völlig anderen Kultur entstammt, wie es bei den Japanern der Fall war, wird es leichter, ihn immer als Fremden zu betrachten. Das galt für beide Seiten. Auf japanischer Seite wurde das noch durch die Regierungspolitik der jahrelangen Abschottung vor fremden Einflüssen forciert. Auf amerikanischer Seite trug dazu bei, dass auch in zweiter oder dritter Generation im Land lebende japanischstämmige Amerikaner nicht zu den Truppen im Pazifik zugelassen wurden, was es leichter machte, den Feind zu entmenschlichen, da auf unserer Seite niemand so aussah wie er. [45] Schlimmer noch, die US -Regierung handelte offiziell rassistisch, indem sie unschuldige japanischstämmige Amerikaner in Konzentrationslager sperrte und sie zu »staatlich geprüften« Sündenböcken machte.
    In Vietnam wurden wie in allen Kriegen neue Pseudoarten gebildet. Die Amerikaner waren im Vergleich zu den meist kleinen, bräunlichen Vietnamesen groß und schwarz oder groß und weiß. Wir hatten sehr wenige Soldaten mit dunklerer Haut auf unserer Seite, die uns daran hätten erinnern können, dass sie auch Menschen waren. In meiner Einheit gab es keine asiatischen Amerikaner, auch im ganzen Marine Corps gab es eher wenige. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht trieb sie ein unterschwelliger Rassismus des Marine Corps in andere Teile unserer Streitkräfte. Vielleicht schickte ihre Kultur junge Menschen während des Vietnamkriegs nicht so blind in Freiwilligen-Einheiten, wie es andere Kulturen taten. [46]
    Gräuel aufgrund gefallener Standards gibt es nicht nur im Zusammenhang mit der Gefangennahme feindlicher Soldaten. Ein weiteres Beispiel war der Vorfall, bei dem einige der Kids in meinem Zug den von ihnen getöteten NVA -Soldaten die Ohren abschnitten. Für sie waren die Ohren so etwas wie Jagdtrophäen. Ich glaube nicht, dass sie damit tatsächlich bewusst die toten Soldaten schänden und entwürdigen wollten – nicht mehr als ein Jäger, der sich das Geweih eines erlegten Elches über das Scheunentor hängt. Die Ohren befestigten sie mit Gummibändern an ihren Helmen, oder sie hängten sie sich an einem Band um den Hals. »Seht mich an, so viele habe ich erwischt. Sieben auf einen Schlag.« Es ist der gleiche Stolz, in dem Highschool-Mannschaften ihren Namen auf Jacken tragen, nur dass diese Jungs kein Basketball spielten.
    Nach all den Schrecken, die ich bereits erlebt hatte, machte mir die Geschichte eigentlich nichts mehr aus. Ich hätte leicht damit leben können, tat aber so, als sei ich wütend, was ihnen wahrscheinlich auffiel. Es passt zu Lawrence’ Kommentar: »Was heute schamlos oder sadistisch aussieht, schien auf dem Schlachtfeld unvermeidlich, oder einfach nur eine unwichtige Gewohnheit.« Eine Leiche in Vietnam war meist böse zugerichtet. Ob da noch ein Ohr fehlte oder nicht, machte keinen Unterschied. Oft wurden den Toten ihre Grütelschnallen weggenommen. Wir konnten sie mit den Leuten vom Tross gegen Socken oder Bier eintauschen. Mit Ohren ließ sich ebenfalls handeln. Ein Paar war ungefähr eine Kiste Bier wert.
    Die Ohrenabschneider waren überrascht, als ich sie zurechtwies und damit bestrafte, dass sie die Ohren wegwerfen und die Leichen außerhalb unserer Linien begraben mussten. Es war eine ziemliche Plackerei, dazu noch in einem Umfeld, das von der Berufsgenossenschaft nicht als tauglicher Arbeitsplatz anerkannt worden wäre. Ich hätte sie die Ohren mit den Leichen begraben lassen sollen, aber auf den Gedanken kam ich damals nicht.
    Wir haben eine Vorstellung davon, was richtig und was falsch ist, und können moralische Fragen diskutieren. Moralische
Standards
sind keine Vorstellungen oder Ideale, sie
existieren
in der Form beobachtbaren, messbaren Verhaltens. Was wir jeden Tag hören und empfinden, wenn wir die Menschen um uns herum beobachten, bildet diese Standards in uns aus. Sehen wir uns nur an, wie das in einem Unternehmen geht. Alle wissen, was perfekte Qualität ist – sie ist das Ideal. Aber jeden Tag verdirbt ein Arbeiter drei Prozent der Produktion durch Achtlosigkeit, und niemand sagt etwas. Damit liegt der Standard bald schon bei einer dreiprozentigen Fehlerquote, so perfekt das angestrebte Ziel auch sein mag. Drei Prozent Ausschuss, das war der

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