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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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Schmerzensschrei Bahn. Ich sah auf die winterlichen Felder vor meinem Fenster hinaus und konnte nicht aufhören: »O Gott. O Gott.« Bat ich um Vergebung? Rotz tropfte mir aus der Nase auf die Tastatur, und es dauerte eine Weile, bis ich weiterschreiben konnte. Als ich meine Gedanken wieder zu sammeln vermochte, begriff ich, dass da etwas Bezeichnendes in mir vorgegangen war, als ich mir wie unter Zwang eine Tat zugeschrieben hatte, eine Fiktion, um etwas zu verbergen, an dem auch andere beteiligt gewesen waren. Die drei NVA -Soldaten waren ein erfundenes Bild, ein Symbol für das Leid des Krieges. Die Wahrheit war, dass Marines NVA -Soldaten ohne Schonung getötet hatten, wo immer sie sie finden konnten, und ich hatte nicht mehr und nicht weniger getan als die anderen. Dass einige NVA -Soldaten in Gruppen getötet wurden, bezweifle ich nicht, aber die drei in meiner Vorstellung hatte ich erfunden.
    Ich begreife heute, dass ich diese Geschichte erfand, um zu meinen Gefühlen zurückzufinden, Gefühlen, die ich jenen ganzen langen Tag über unterdrückt und ignoriert hatte, und auch noch für viele Tage und Jahre danach. Ich war davor gewappnet, durch einen sachlichen Bericht mit meinen Gefühlen konfrontiert zu werden, aber mittels dieser Geschichte konnte ich mich selbst überraschen und meine Abwehr umgehen. Das ist einer der Gründe, warum Erzählen so wichtig ist: Indem ich nach und nach jene verlorenen, unterdrückten Gefühle wiedergewann, trat ich in einen Heilungsprozess ein und erkenne heute, an was für einer Tragödie ich beteiligt war.
    Heute kann ich jene Geschichte wahrheitsgemäß erzählen. Wir alle haben getötet, wir alle haben niemandem die Chance eingeräumt, sich zu ergeben. Am Ende zog sich die NVA aus ihren Stellungen zurück, feuerte weiter auf uns und sicherte den eigenen Rückzug. Ich wusste, dass wir sie in die Flucht geschlagen hatten und das die Gelegenheit war, über sie herzufallen. [41]
    Die ganze vorhergehende Nacht über hatte ich die Karte studiert, unseren Angriff durchgespielt, mögliche Entwicklungen und Strategien durchdacht. Ich wusste, wenn es uns gelang, sie vom Hügel zu drängen, würden sie über einen schmalen Grat müssen, wegen des Terrains und weil unsere Kräfte sie dorthin trieben, sobald sie anfingen, sich zurückzuziehen. Deshalb hatte ich einen Trupp mit einem Maschinengewehr in den Dschungel beordert, um dort in Stellung zu gehen und sie auszulöschen, wenn sie den Hügel herunterkamen.
    Der Truppführer Isle war mein früherer Funker. Er und ich hatten schon ein ganzes Leben miteinander verbracht, hatten gemeinsam unter einem Poncho gezittert, um nicht zu unterkühlen, hatten unsere letzten Rationen geteilt, unser letztes Tütchen gefriergetrockneten Kaffee. Selbst unsere Briefe nach Hause hatten wir uns vorgelesen, die traurigen und die freudigen. Wir hatten Trauer und Wut geteilt und mehr als einmal Momente, die gut unsere letzten hätten sein können.
    Isle war klug. Obwohl erst neunzehn und nur ein Lance Corporal, hatte ich ihm, nachdem wir bei unserem letzten Gefecht so viele Truppführer verloren hatten, einen Trupp unterstellt und einen neuen Funker ernannt.
    Ich erinnere mich, wie ich Isle über Funk anschrie: »Beweg dich! Ich will dich da haben, und zwar
jetzt!
« Der Feind verhielt sich genau wie erwartet, aber Isle war noch nicht in Position. »Sie fangen an, auszubrechen! Bring das Gewehr in Stellung! Sie werden uns noch entwischen, gottverdammt! Beweg dich!«
    Ich hatte eine Grenze überschritten. Es war der reine Blutdurst. Aus meiner »Weißglut« wurde »Rotglut«. Meine Aufgabe, den Hügel wieder einzunehmen, war erfüllt, aber meine Sorge galt nicht mehr der Frage, wie ich meine Aufgabe mit möglichst geringen Verlusten erfüllen konnte. Ich wollte nur immer noch mehr Schlitzaugen töten.
    Ich liebte Isle wie einen jüngeren Bruder, und Isle, wie es vielleicht alle jüngeren Brüder versuchen, wollte seinen älteren Bruder nicht enttäuschen. Er tat praktisch alles, um mir einen Gefallen zu tun. Also verließ er die Deckung und Sicherheit des Dschungels, durch den sie nicht schnell genug vorangekommen waren, und rannte mit seinem Trupp über offenes Gelände, um das Gewehr in Stellung zu bringen. Zwei Raketen wurden vom Hügel abgefeuert, den wir angriffen. Isles enger Freund Tennessee, ein Junge, mit dem ich mich oft unterhalten hatte, wenn er Isle besuchte, trug Isles Funkgerät. Beide wurden getötet. P-Dog, der Maschinengewehrschütze,

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