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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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weit überstiegen. Dummerweise waren wir jedoch zu kleinmütig, wir wollten unsere Linien nicht gerne überschreiten und ins Feuer eines Feindes geraten, der sich rings um uns herum eingegraben hatte – jedenfalls nicht, um Leichen zu zählen, damit der Stab seine Zahlen bekam. Also hatten wir schlechte Zahlen, und dafür musste jemand verantwortlich sein. (Aber wir hatten den Hügel am Ende gehalten, wir hatten gewonnen, oder etwa nicht?) Unser Kompaniechef war ein First Lieutenant von dreiundzwanzig Jahren. Er war dreist und mehr als ein bisschen schnoddrig, sein Porträtfoto war wegen früherer Unternehmungen schon mehrfach in den Zeitungen erschienen. Die meisten älteren Karriereoffiziere hätten einiges dafür gegeben, eine kämpfende Kompanie unter sich zu haben, und bei uns wurde das Potenzial von einem Schnellaufsteiger (dem ehemaligen Führer einer Studentenverbindung) vergeudet, der wahrscheinlich bald schon zurück nach Amerika gehen und Immobilienentwickler werden würde. Er war der augenfällige Sündenbock. Ich stand natürlich fest an der Seite meines Kompaniechefs und wollte unbedingt meine Version der Vorgänge zu Papier bringen, was mich doppelt motivierte, in meinem Bericht die Trommel für Gerechtigkeit und Wahrheit zu rühren. Wenn der Chef sagte, wir sollten die gesamte Kompanie für eine Belobigung vorschlagen, wollte ich bei Gott tun, was ich konnte. Ich würde die schlechten Zahlen vergessen machen.
    Einige von den Jungs hatten mir berichtet, sie hätten gesehen, dass die NVA -Leichen mit Draht umgewickelt gewesen seien. Ich selbst hatte so etwas nie gesehen, nahm es aber wie eine Tatsache in meinen Bericht auf. Ich wollte meinen Leuten diese Belobigung verschaffen, koste es, was es wolle.
    Das alles mag dem zivilen Leser ziemlich unwichtig erscheinen, aber er muss begreifen, wie hoch Professionalismus und Ehre im Militär geschätzt werden. Glauben Sie mir, es ist keine kleine Sache, in einem Bericht zu lügen. Ich schäme mich immer noch dafür, wobei es eine schreckliche Ironie des Krieges war, dass der Bataillonskommandeur getötet wurde und mein Bericht verloren gegangen oder von einem klügeren Offizier weggeworfen worden sein muss. Was ich jedoch sagen will, ist nicht, dass ich damals schon das Gefühl hatte, etwas falsch gemacht zu haben. Nein, es erstaunt mich bis heute, dass ich tatsächlich glaubte, was ich da aufschrieb, und das mit aller Leidenschaft. Ich wäre gegen jeden angegangen, der meine Leute oder mich einen Lügner genannt hätte, ich hätte meine Ehre verletzt gesehen. Ich hatte mir selbst eingeredet, die NVA -Soldaten hätten Stacheldraht um ihre Leiber gewickelt, um so den Blutfluss zu verlangsamen und bis zum Tod weiterkämpfen zu können. Das ließ unseren Kampf um den Hügel so viel heldenhafter wirken. »Angesichts eines fanatischen Feindes …«, und so weiter. Trotzdem wusste ich beim Schreiben, dass es nicht stimmte. Also nenne ich es eine Lüge »der zwei Bewusstheiten«.
    »Ich« überzeugte »Es«. Das Ich, das die Überzeugungsarbeit leistete, versuchte verzweifelt, die gesamte Erfahrung zu rechtfertigen, sie vernünftig und richtig erscheinen zu lassen. In Ordnung, bestätigt. Mit dem »Es« überzeugte ich mein moralisches Selbst, den Teil von mir, den ich mir als Richter in einem Rechtssystem wünschte. Unser moralisches Selbst ist in solchen Extremsituationen jedoch verletzlich – durch die überwältigende Kraft jenes anderen Teiles, der unsere Handlungen zu rechtfertigen sucht.
    Ich schäme mich dieser Lüge, weil sie nichts anderem diente als der Selbstüberhöhung. Es gab kein größeres Gut, das es zu verteidigen galt. Es ging nicht um Menschenleben. Im Übrigen log ich nicht wirklich aus »zwei Bewusstheiten« heraus. Im Grunde glaubte ich das, was ich da schrieb, nicht einen Augenblick lang. Ich kontrollierte, was ich tat. Vielleicht vergrößert das meine Scham noch.
    Es ist diese Lüge der zwei Bewusstheiten, die am gefährlichsten ist. Ich bin sicher, William Westmoreland glaubte, dass Khe Sanh militärisch so wichtig war, um den Rang zu rechtfertigen, den es zu Hause in den Vereinigten Staaten politisch gewann [52] , und Oliver North leistete eine Lüge der zwei Bewusstheiten, als der Kongress ihm sagte, er müsse Leute im Stich lassen, denen er zu helfen versprochen hatte. Ein Offizier der Marines und Absolvent der Naval Academy, in dessen Bewusstsein tief verwurzelt war, dass man keine Kameraden im Stich ließ, geriet so in heftigen

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