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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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die sehnlich erwartete Munition für die in Reserve liegende Kompanie und hatte uns von dem vor ein paar Tagen bereits eingenommenen Hügel Feuerunterstützung geben wollen. Wir denken, der Vogel wurde bei seinem Anflug von einer Mörsersalve getroffen und der Pilot suchte sich in seiner Verwirrung oder wegen der dahinjagenden Wolken den falschen Hügel aus, vielleicht blieb ihm auch keine Wahl. Das Ergebnis war das gleiche: Er kam direkt über dem Schlachtfeld herunter, und die NVA zerschoss ihn vollkommen. Der Vogel geriet außer Kontrolle und krachte oben auf die Spitze des Hügels, wobei ihm die Rotoren abrissen.
    Da tauchte Niemi wieder in meinem Blickfeld auf. Er rannte zu dem abgestürzten Hubschrauber. Später fanden wir heraus, dass er die ganze Zeit hinter den Löchern und Bunkern herumgekrochen war und die NVA -Leute von hinten erschossen hatte. Völlig entgeistert hatte er zu dem aus den Wolken herunterheulenden Hubschrauber hinaufgesehen, der ihn beinahe getroffen hätte. Hinterher erzählte er mir, es habe ausgesehen, als wären überall auf dem Ding Pusteln aufgebrochen, nachdem es von der NVA unter Beschuss genommen worden war. Als er sah, wie die Mannschaft aus dem Hubschrauber heraussprang, um unter ihm Schutz zu suchen [69] , war das Einzige, was ihm einfallen wollte, über den Gipfel zu ihnen zu sprinten und zu sehen, ob er einen Platz fand, vom dem aus er sie verteidigen konnte. Er besprach das nicht, er tat es einfach. Es war ein unbewusster, großzügiger und potenziell selbstaufopfernder Akt.
    Viele von uns, die den Hang heraufkamen, sahen Niemi über die offene Fläche sprinten. Als klar war, dass er noch lebte und er und die Hubschrauberbesatzung ihrem sicheren Tod entgegensahen, wenn wir nicht zu ihnen durchbrachen, liefen alle los, um sie zu erreichen, bevor die NVA sie umbrachte. Niemand gab den Befehl dazu.
Wir,
die Gruppe, liefen gemeinsam los und waren nicht aufzuhalten. Nur Einzelne von uns. Einige für immer. Aber
wir
konnten nicht gestoppt werden. Auch das war eine Form der Überhöhung. Ich war wir, nicht länger ich.
    Lance Corporal Steel, neunzehn, der die Rolle des Zugführers übernommen hatte, bis ich die Dinge neu organisierte, und jetzt der Platoon Sergeant war, kam zuerst an. Die Hubschrauberbesatzung war so dankbar und glücklich, dass sie ihre Pistolen verschenkten. Ich bekam die . 38 Smith & Wesson des Piloten.
    Niemi bekam ein Navy Cross.
    Ich bekam ein Navy Cross.
    Der Hubschrauberpilot bekam eine Titelgeschichte in den
Stars and Stripes
mit der Schlagzeile »Hubschrauber besucht ungeladen Party des Feindes und nimmt Hügel ein«. [70]
    Der Junge, der sich mein Gewehr ausgeliehen hatte, bekam nichts.

[zurück]
    9 Zu Hause
    Zum ersten Mal vom Schlachtfeld in die normale Welt zurückzukehren, ist eine ähnlich mysteriöse Reise wie die in den Tempel des Mars. Die Welt, aus der du ursprünglich gekommen bist, hat sich verändert, genau wie du selbst dich verändert hast. Du hast Dinge an dir kennengelernt, von denen du nicht wusstest, dass sie zu dir gehören. Du warst böse, und du warst gut, und du warst jenseits von Gut und Böse. Du hast dein Denken von deinem Herzen abgetrennt und dein Herz mit Trauer und dein Denken mit Angst zerrissen. Du hast die Unendlichkeit berührt, und jetzt versuchst du zurück in den Alltag zu finden. Der Krieger der Zukunft wird wissen müssen, wie man in beide Welten eintritt und sie wieder verlässt, wenn schon nicht mit Leichtigkeit, dann doch so, dass die eigene Persönlichkeit nicht daran zerbricht.
    Ich war in Uniform und ging die M Street hinunter, in der Hauptstadt unseres Landes. Ich war seit vielleicht einem Monat zurück. Eine Gruppe junger Leute, etwa in meinem Alter, folgte mir auf der anderen Straßenseite, verspottete und beschimpfte mich und skandierte gemeinsam Parolen. Sie schwenkten die Flagge Nordvietnams und der Vietcong.
    Ich blieb stehen, sah über den Abgrund der Straße zu ihnen hinüber und wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Ich versuchte, auf etwas zu kommen, das mir erlaubt hätte, mich mit ihnen anzufreunden. Ich wollte nicht auch noch gegen sie kämpfen. Ich war es leid zu kämpfen. Ich wollte mein Zuhause zurück, wollte verstanden und willkommen geheißen werden.
    Ich sehe immer noch die Flaggen, die sie hin- und herschwenkten, höre die Beleidigungen. Gut angezogene Menschen eilten vorbei, die Köpfe gesenkt, und vermieden es, mich anzusehen, während der Trupp gegenüber weiter spottete und

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