Was ich dir noch sagen will
immer lichter werdenden Haares.
Lisa schmunzelte bei dem Gedanken an ihren Bruder. Niemals hätte sie gedacht, dass er ihr zuvorkommen würde mit der Gründung einer Familie. Denn obwohl er drei Jahre älter war als sie, sah es lange Zeit so aus, als wäre er überhaupt nicht fähig, sich fest zu binden. Er schlitterte von einer Beziehung in die nächste, bis seine Freundin Agnes plötzlich schwanger wurde. Damals war es ein ziemlicher Schock für alle gewesen. Doch heute würde wohl niemand bestreiten, dass Emi das Beste war, was Lenny und auch allen anderen in der Familie passieren konnte. Agnes war zwar nicht unbedingt Lisas erste Wahl als Schwägerin gewesen, aber im Grunde mochte sie Agnes.
Wenn Lisa ganz ehrlich war, waren es vor allem einige spezielle Themen, bei denen sie sich Agnes gegenüber unterlegen oder nicht ernst genommen fühlte. Und das machte sie rasend. Ein Knackpunkt war natürlich die Kinderfrage, genauer gesagt die Kindererziehung. Oder wenn Agnes bei einer Familienfeier auf Ökologie oder politisch brisante Themen zu sprechen kam. Lisa wich ihrer Schwägerin dann stets aus, wohingegen Erik dann erst richtig in Fahrt kam. In solchen Momenten sahen sich Lisa und Lenny achselzuckend an und widmeten sich einfach dem Essen oder eben der kleinen Emi.
«Emi», sagte Lisa leise zu ihrem Spiegelbild. Aber doch so laut, dass sie sich selbst ein wenig erschreckte.
Das letzte Mal hatten Erik und sie ihren Bruder an dem Wochenende vor den Flitterwochen besucht, um Emis Geburtstag zu feiern. Noch immer musste Lisa lächeln, wenn sie daran dachte, mit welch wohligem Gefühl sie Erik dabei beobachtet hatte, wie er mit Emi im Garten spielte. Er hatte ihr beigebracht, wie man kleine, schokoladige Schaumküsse durch die Luft wirbelt und mit dem Mund sicher wieder fängt. Eine ganze Schachtel hatten die beiden auf diese Weise verdrückt, sodass Agnes einen ihrer berühmten Tobsuchtsanfälle bekam.
Lisa dachte, wie schön es wohl wäre, wenn sie und Erik eines Tages ihr eigenes Kind beim Spielen beobachten könnten. Und im selben Moment wurde ihr klar, dass der Wunsch nach einem gemeinsamen Kind in den letzten Monaten zwar spürbar, aber doch noch sehr weit weg und so gesehen rein theoretischer Natur gewesen war.
Heute, dachte Lisa, war vieles anders. Ihre Ehe, die Gespräche mit ihrer Mutter, die Beschäftigung mit Emi, der Gang zur Arbeit – ja beinahe ihr ganzes Leben –, alles schien sich um eine feine, aber entscheidende Nuance verändert zu haben. Nie zuvor hatte Lisa so viel gegrübelt. Nie zuvor hatte sie sich so viele Fragen nach dem Sinn des Lebens gestellt. Noch nie zuvor hatte sie so viele Kinder bewusst wahrgenommen wie in den letzten Tagen und Wochen, obwohl sie nun schon so viele Jahre im selben lebendigen Stadtteil wohnte.
Lisa sah ihrem Spiegelbild tief in die Augen. Sie versuchte, ihr Gegenüber so zu fixieren, als wäre es eine andere Person. Eine andere Frau oder sogar eine Mutter. Lisa versuchte, dieses Bild vor ihrem geistigen Auge entstehen zu lassen. Aber es wollte nicht so recht gelingen. Sie malte sich verschiedene Szenen in der Zukunft aus, etwa an Weihnachten, wenn ihre ganze Familie zusammensaß – nur diesmal mit einer kleinen Person mehr am Tisch. Sie stellte sich das Kuscheln zu dritt im Bett vor, eine Kissenschlacht an einem Sonntagmorgen. Und erste Anflüge von Eriks Eifersucht, wenn sie eine Tochter bekämen, die ihnen eines Tages ihren Freund vorstellen würde.
Nach einer Weile stellte Lisa ihren Blick wieder scharf. Wie lange ihre Tagträume gedauert hatten, vermochte sie nicht zu sagen. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und sah plötzlich in die Augen einer reifen, entschlossenen Frau, die ziemlich genau wusste, was sie wollte.
Lisa wurde auf einmal ganz warm ums Herz. Sie schüttelte amüsiert den Kopf. Nie zuvor hatte sie eine solche Empfindung gehabt. Aber nun war sie sich ganz sicher. Sie wünschte sich ein Kind! Jetzt wusste sie, worauf sie sich ihr ganzes Leben lang mehr oder weniger unbewusst vorbereitet hatte – auf den Tag, an dem sie tatsächlich eine eigene Familie gründen wollte.
Der Gedanke, Erik in einem passenden Moment davon zu berichten und den Wunsch mit ihm zusammen weiterzuspinnen, zauberte ihr ein vorfreudiges Lächeln auf die Lippen. Die Vorstellung vermittelte ihr ein unbekanntes, aber seltsam schönes Gefühl. Ihre Enttäuschung über seine Absage gestern war verflogen. Stattdessen überkam sie eine starke Sehnsucht.
Lisa
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