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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Wie enttäuschend! Hat sie keine professionelle Aufmachung?«
    »Seid nicht so naiv«, sagten wir. »Glaubt ihr, die tragen alle Pailletten und Federboas?«
    Alle verstummten, um sie Klavier spielen zu hören. Sie sang oder summte dazu mit, nicht ständig, aber laut, mit der herausfordernden, übertreibenden Stimme jemandes, der allein ist oder sich allein wähnt. Sie sang »Yellow Rose of Texas« und »You Can’t Be True, Dear«.
    »Huren sollten Choräle singen.«
    »Wir werden ihr welche beibringen.«
    »Ihr seid alle solche Voyeure. Ihr seid alle so gemein«, sagte ein Mädchen namens Mary Frances Shrecker, ein großknochiges Mädchen mit stillem Gesicht und langen schwarzen Zöpfen. Sie war mit Elsworth Shrecker verheiratet, der früher ein mathematisches Wunderkind gewesen war und einen Zusammenbruch erlitten hatte. Sie arbeitete als Ernährungsberaterin. Hugo sagte, er könne sie nicht ansehen, ohne an das Wort Lumpenpuppe zu denken, aber wahrscheinlich sei sie recht nahrhaft, wie Hafermehlbrei. Sie wurde seine zweite Frau. Ich dachte, sie sei die richtige Frau für ihn, ich dachte, sie würde für immer bleiben und ihn ernähren, aber die Studentin vertrieb sie.
    Das Klavierspiel war für unsere Freunde unterhaltsam, aber eine Katastrophe an den Tagen, an denen Hugo zu Hause war und zu arbeiten versuchte. Angeblich schrieb er an seiner Doktorarbeit, aber in Wirklichkeit schrieb er an seinem Theaterstück. Er arbeitete in unserem Schlafzimmer, an einem Kartentisch vor dem Fenster, mit Blick auf einen Bretterzaun. Wenn Dotty ein Weilchen gespielt hatte, konnte es sein, dass er in die Küche kam, mir sein Gesicht entgegenstreckte, bis es dicht vor meinem war, und im leisen, gleichmäßigen Tonfall mühsam unterdrückter Wut sagte: »Du gehst jetzt runter und sagst ihr, sie soll das lassen.«
    »Geh du doch.«
    »Den Teufel werd ich. Sie ist deine Freundin. Du verkehrst mit ihr. Du stiftest sie an.«
    »Ich habe ihr nie gesagt, sie soll Klavier spielen.«
    »Ich habe alles so arrangiert, um an diesem Nachmittag frei zu haben. Das hat sich nicht einfach so ergeben. Ich habe es arrangiert. Ich bin an einem kritischen Punkt, ich bin an dem Punkt, wo dieses Stück entweder lebt oder stirbt . Wenn ich runtergehe, habe ich Angst, ich werde sie erwürgen.«
    »Sieh mich nicht so an. Erwürge mich nicht. Entschuldige, dass ich atme.«
    Ich ging natürlich immer in den Keller hinunter, klopfte an Dottys Tür und fragte sie, ob es ihr etwas ausmachen würde, jetzt nicht Klavier zu spielen, da mein Mann zu Hause sei und zu arbeiten versuche. Ich benutzte nie das Wort schreiben , das hatte Hugo mir eingetrichtert, dieses Wort war für uns wie ein blanker Draht. Dotty entschuldigte sich jedes Mal, sie hatte Angst vor Hugo und Achtung vor seiner Arbeit und seiner Intelligenz. Sie hörte auf zu spielen, aber das Problem war, dass sie dazu neigte, es zu vergessen, es konnte sein, dass sie nach einer Stunde oder einer halben wieder anfing. Die Möglichkeit machte mich nervös und bedrückte mich. Da ich schwanger war, wollte ich ständig etwas essen, und so saß ich gierig, unglücklich am Küchentisch und aß etwas wie einen Teller voll mit aufgewärmtem spanischem Reis. Hugo hatte das Gefühl, dass die Welt seiner Schriftstellerei feindlich gesonnen war, nicht nur alle ihre menschlichen Bewohner, sondern auch ihre Geräusche und Ablenkungen und ihre normale Betriebsamkeit hatten sich gegen ihn verbündet, um ihn tückisch, planmäßig und teuflisch zu bedrängen und zu lähmen und von der Arbeit abzuhalten. Und ich, deren Aufgabe es war, mich zwischen ihn und die Welt zu werfen, brachte es nicht fertig, das zu tun, aus freier Entscheidung vielleicht ebenso wie aus Unfähigkeit. Ich glaubte nicht an ihn. Ich hatte nicht begriffen, warum es erforderlich sein würde, an ihn zu glauben. Ich glaubte, dass er klug und begabt war, was immer das bedeuten mochte, aber ich war nicht sicher, dass aus ihm ein Schriftsteller werden würde. Er besaß nicht die Autorität, die ein Schriftsteller meiner Ansicht nach haben musste. Er war zu nervös, zu empfindlich allen anderen gegenüber, zu angeberisch. Ich glaubte, dass Schriftsteller ruhige, traurige Menschen waren, die zu viel wussten. Ich glaubte, dass sie etwas an sich hatten, das anders war, eine harte und leuchtende, seltene, einschüchternde Eigenart, die sie von Anfang an besaßen, und Hugo besaß sie nicht. Ich dachte, dass er das eines Tages einsehen würde. Vorläufig jedoch

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