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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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dann gewöhne ich mir das Trinken besser nicht an. Sie hörte Viola ins Badezimmer gehen und zurück in ihr Zimmer und die Tür schließen. Sie hörte sie die Lampe ausknipsen. Sie machte ihre eigene Lampe aus. Jeanette schlief im Erdgeschoss. Kein Laut im ganzen Haus.
    Dorothy saß in ihrem langen Nachthemd auf dem Bett, ihre Haare, die tagsüber aufgesteckt getragen wurden, lagen immer noch recht dick wie ein steifer, grauer Besen um ihre Schultern. Nach einer Weile konnte sie ihr altes Gesicht im Spiegel erblicken. Der Mond schien. Sie sah aus wie ein Kinderschreck, wie eine alte nordische Hexe. Der Anblick brachte sie zu dem Entschluss, hinunterzugehen, um ein Glas Milch oder eine Tasse Tee zu trinken, damit sie wieder zu ihrem normalen Selbst zurückkehrte.
    Sie ging barfuß hinunter, mit ihrem alten kastanienbraunen Morgenmantel über dem Nachthemd. Sie machte kein Licht an. In den hinteren Zimmern des Hauses konnte sie mit Hilfe des Mondlichts sehen, in den vorderen mit Hilfe der Straßenlaterne. Sie schloss die Haustür auf und ging die Stufen hinunter.
    Sie stand in ihrem Morgenmantel auf dem Bürgersteig, ihr helles Nachthemd schaute darunter hervor, und sie dachte: Was, wenn mich jemand sieht? Sie ging auf dem Rasen ums Haus. Das Gras war nass. Augusttau. Sie ging an den Spiersträuchern vorbei und stand an dem Blumenbeet, auf dem aller Rittersporn abgeschnitten worden war. Es gab weder einen Zaun noch eine Hecke zwischen ihrem Grundstück und dem der Kings. Auf der anderen Seite des Beetes begann der verwilderte Rasen der Kings.
    Die Kings hatten auf der Rückseite ihres Hauses eine verglaste Veranda. Das Licht darin brannte. Die Veranda war vor ein paar Jahren renoviert worden, und die Fenster reichten jetzt bis zum Boden.
    Dorothy ging über das Blumenbeet und versuchte, nicht auf die Pflanzen zu treten. Sie stand auf dem Rasen der Kings. In der erleuchteten Veranda konnte sie zwei Gestalten sehen, und als sie näher ging, erkannte sie Jeanette und Blair King. Jeanette schien auf einem niedrigen Hocker oder Puff zu knien. Sie zog sich ihre bestickte Bluse über den Kopf. Dann war sie nackt. Blair King, der ein Stück weit fort stand, zog sich auch aus und ließ sich dabei Zeit. Natürlich. Neuerdings bedeutete es nichts, das zu tun. Das also hatte Dorothy in Gang gesetzt, aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Die beiden selbst würden es schon morgen vergessen haben. Oder in einer Woche. Etwa nicht? Man konnte kaum sagen, dass sie verliebt waren, außerdem waren sie betrunken wie Matrosen.
    Blair King kniete sich vor Jeanette und presste sein Gesicht an sie. Sie beugte sich über ihn und hielt seinen Kopf. Ihr gebräunter Körper sah im Licht der Veranda golden aus, der seine weiß. Aneinandergepresst. Dorothy musste schließlich stehen bleiben. Sie sog bei dem Anblick den Atem ein. Jetzt, wo sie ihre Kleidung und auch die Mienen und Gesten, die sie von ihnen kannte – alles, was sie ihr von sich kundtun konnten – abgelegt hatten, kamen sie ihr fremd und zugleich vertraut vor, sich selbst sowohl mehr als auch weniger gleichend. Wie Statuen in einem Museum. Aber dafür – sogar, wenn sie für Ruhe hätte sorgen können! – waren sie zu lebendig, zu unbeholfen. Sie stellten sich im Licht zur Schau, als wäre alles egal, umschlangen und verschlangen sich jetzt, genossen und plünderten sich. Wenn sie fähig gewesen wäre, ihnen mit ihrer alten Schulhofstimme zuzurufen: Hört auf damit, hört sofort damit auf!, wäre es eher eine Warnung gewesen als ein Tadel. So kühn sie auch waren, in ihren Augen sahen sie hilflos aus, hilflos und gefährdet wie Menschen auf einem Floß, das in der Strömung dahintrieb. Und niemandes Zuruf konnte sie erreichen. Sie stolperten, sie stürzten und zogen einander stumm hinunter, hinter dem Glas.
    Jetzt fiel ihr auf, dass sie am ganzen Körper zitterte, ihre Knie waren weich, in ihrem Kopf hämmerte es. Sie fragte sich, ob man sich so fühlte, wenn einem ein Schlaganfall bevorstand. Es wäre schrecklich, hier einen Schlaganfall zu bekommen, im Nachthemd und nicht einmal auf ihrem eigenen Grundstück. Sie machte sich auf den Rückweg durch das Blumenbeet und um ihr Haus herum. Das Gehen tat ihr gut, und als sie die Stufen zur Haustür erreichte, war sie halbwegs beruhigt, dass sie doch keinen Schlaganfall bekommen würde. Sie setzte sich für ein paar Augenblicke auf die Stufen, um sich zu fassen, und schloss die Augen.
    Auf ihren geschlossenen Augenlidern

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