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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Vorurteil; die Nazis hatten blaue Augen. Aber seine Augen gaben mir irgendwie ein Sicherheitsgefühl, also habe ich mitgemacht, sogar, als wir den Campingwagen stehen lassen mussten und durch all diese krummen, gewundenen, übelriechenden Gassen im arabischen Viertel liefen, und als ich dann sicher war, dass wir nicht zur Polizei gingen, hätte ich sowieso nicht zurückgefunden. Ihr bringt mich doch gar nicht zur Polizei, sagte ich, und sie sagten, nein. Nicht sofort, sagte der mit den blauen Augen. Ich werde dich nach Hause bringen und meiner Mutter vorstellen!«
    »Na, das war doch eigentlich sehr nett von ihm«, sagte Viola ermutigend.
    Aber Blair King lachte.
    »Ich weiß . Seiner Mutter vorstellen. Und seiner Schwester, hat er gesagt. Irgendwann sind wir dann doch bei einem Haus angekommen oder jedenfalls bei einer Tür, mehr konnte ich nicht erkennen, denn Sie wissen ja, wie die Mauern da alle ineinander übergehen. Und wir waren in einem kleinen, kahlen Zimmer mit einem Sofa und einer nackten Glühbirne. Warte einen Moment, sagte er und ging durch eine andere Tür hinaus. Sein Freund blieb da. Ich mochte den Freund überhaupt nicht. Er hatte ein finsteres Gesicht. Er redete nicht. Ich saß auf dem Sofa, und nach einer ganzen Weile kam Nr. 1 zurück und sagte, es täte ihm leid, seine Mutter und seine Schwester schliefen schon. Dann sagte er, er würde gehen und etwas zu essen kaufen. Ich bat ihn, mich zurückzubringen, und er sagte, später. Also ließ er mich wieder mit diesem Freund allein, und kaum war er weg, da passierten seltsame Dinge. Der Freund kam rüber, setzte sich aufs Sofa und fing an, meine Hände und Arme zu streicheln und mit mir zu reden. Ich versuchte, alles unter Kontrolle zu behalten, und stellte ihm Fragen – na ja, zum Entschärfen , aber ich bekam es mit der Angst. Ich glaubte jetzt, dass sie das miteinander verabredet hatten. Ich hatte wirklich große Angst. Er fing an, auf dem Sofa auf mir herumzukrabbeln, also stand ich auf, und da ließ er die Maske fallen, drängte mich an die Wand und zog ein Messer …«
    »Oh Gott«, rief Viola. »Wie konntest du nur in ein solches Land fahren?«
    »Und er hielt es mir an die Kehle und verlangte – inzwischen war seine Zeichensprache sehr deutlich geworden, aber ich sagte nur nein, nein , und weigerte mich, mir irgend etwas anzuschauen.«
    »Aber das Messer war an Ihrer Kehle«, sagte Blair King fast, als wäre das ein Witz.
    »Na ja, ich habe irgendwie gedacht, er blufft nur. Das war irgendwie zu merken. Es war alles wie ein Spiel. Und dann kam der Blauäugige zurück. Er war wirklich etwas zu essen kaufen gegangen; er brachte etwas Käse und so weiter, und er wurde sehr ärgerlich oder tat zumindest so, als er sah, was vorging. Der andere steckte natürlich das Messer weg. Der Blauäugige entschuldigte sich mit großer Beredsamkeit, und wir setzten uns alle hin und aßen. Es kommt einem unglaublich vor. Dann sagte der Blauäugige, er würde mir den Weg zurück zeigen. Und er tat es. Er war sehr höflich. Auf dem Rückweg bat er mich, ihn zu heiraten.«
    Als Jeanette das sagte, senkte sie vor Verlegenheit die Stimme, was sie in keinem anderen Teil der Geschichte getan hatte.
    »Er hoffte, ich würde ihn aus dem Land herausholen oder so was. Oder vielleicht ist es eine extreme Form von arabischer Höflichkeit. Er kam jeden Tag bis zu meiner Abreise ins Hotel und wiederholte seinen Heiratsantrag. Natürlich sagte er, er liebt mich.«
    Was wird da alles nicht erzählt?, dachte Dorothy. Sie hatte viel Erfahrung damit, den Stimmen von Kindern zu lauschen, die etwas ausließen. Vielleicht hat sie mit dem blauäugigen Araber geschlafen, als sie mit ihm im Hotel ankam. Vielleicht hat sie mit beiden in dem arabischen Haus geschlafen. Irgendetwas mehr als das. Vielleicht hat sie ihn geliebt. Vielleicht ist die ganze Geschichte erfunden.
    »Ich glaube«, sagte Jeanette entschuldigend, »ich glaube, ich war ein bisschen in ihn verliebt. Sehr seltsame Dinge passieren mit unseren Gefühlen in diesen Ländern. Und wenn man allein ist.«
    »Seltsame Dinge passieren«, stimmte Blair King zu.
    »Natürlich lässt sich unmöglich sagen, was sie für uns empfinden. Unmöglich.«
    Sie hatte zusammen mit Blair King fast die ganze Flasche Gin ausgetrunken.

    Dorothy machte sich fertig für die Nacht. Sie fühlte sich unruhig und überhaupt nicht müde, obwohl es weit nach ihrer üblichen Schlafenszeit war. Wenn ein Schluck Alkohol das mit mir macht, dachte sie,

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