Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
Vom Netzwerk:
Schwester sagt es freundlich.
    Durst ist schlimm, sagt er.
    Es ist ein gutes Zeichen, ein Lebenszeichen. Sie lächelt.
    Er hört sich knurren: Immerhin!
    Sein Körper empfindet das anders, er glaubt seinem Körper. Der gibt nach, langsam, aber stetig.
    Wollen Sie noch einen Becher trinken?
    Er möchte gerne, und doch nicht. Seitdem sie die Blase in den Darm leiten, kann er kaum etwas halten.
    Ich will keine Gummihose tragen, nicht aus Plastikschnäbeln trinken, Schonkost essen, mich abwischen lassen, Ihren Arm als Stütze, Herrgott, und so weiter, sagt er.
    Sie hält ihm den Becher trotzdem hin.
    Er nimmt ihn, berührt kurz die weiche Haut an der Kante ihres Zeigefingers und trinkt.
    Manchmal liegt sie auf der Lauer, wartet darauf, dass er unfreundlich ist. Denkt er. Oder freundlich. Manchmal ist er aber zu beidem nicht fähig.
    Er schließt die Augen wieder, unsicher, was geschieht. Eigentlich mag er die Träume; am liebsten jene, in denen er halbwach ist, Tagträume, die ihm das Gefühl geben, beteiligt zu sein, an allem, was geschieht, aber auch die tiefen, die nicht Albträume sind, von denen er sich nicht erholen muss, wie von einem echten Erlebnis. Er mag sie, weil sie wie ein weiteres Leben sind. Ein Zug fährt regelmäßig los, darin befindet er sich auf dem Weg von Polen nach Deutschland. Wie es damals wirklich war, weiß er nicht mehr. Manchmal möchte er seinen Träumen glauben, weil er sich bereits sein halbes Leben lang wünscht, dass ihm irgendetwas dazu einfällt, irgendwann. Das wird nicht mehr geschehen. Wie quälend das Suchen sein kann, nach der Wirklichkeit hinter den Bildern, die nachts, im Traum, wüten, hat er immer gedacht. Jetzt muss er nicht mehr suchen, die Erinnerungen kommen von selbst.
    Er will nicht schlafen. Er schläft nicht.
    Halten Sie meine Hand?, fragt er leise. Er weiß nicht, ob sie es hört. Auch nicht, ob er es sich wirklich wünscht. Doch, ja. Hält sie seine Hand? Warum hängt man so an diesem Leben?, fragt er.
    Es ist still im Raum, nur glaubt er die kleine Schwester atmen zu hören. Sie gibt aber keine Antwort. Hat er zu leise gesprochen, oder gar nicht?
    Wenn mir einer mal gesagt hätte, du endest mit einem künstlichen Ausgang, und wer weiß, was noch kommt, und diesen ganzen Metastasen, dann hätte ich –
    Was hätten Sie dann?
    Sie ist noch da.
    Ja, was dann? Sagt er.
    Ich will noch immer leben. Sagt er.
    Ich weiß. Maritas Stimme ist ruhig und schön. Sie hält seine Hand nicht.
    Er ist immer schon einer gewesen, der nicht aufgeben will. Einer, der durchhält.
    Damals, als Izy sterben musste, sagt er, und die Soldaten meinen Vater mitnahmen, ist das auch so gewesen, ich wollte bleiben, leben, trotz dieser schrecklichen Stille ohne die Vaterstimme, ohne das Hundekläffen, wenn draußen auf der Straße oder im Feld jemand ging, oder nur die Katzen fauchten, obwohl niemand wusste, wie es weitergehen würde.
    Das schlimme Leben rennt in einen hinein und rennt auch wieder heraus, weil das gute Leben auch hineinwill, habe ich später häufig gedacht. Die beiden wechseln sich ab. Zum ersten Mal fiel mir das ein, nachdem über Wochen alles dumpf gewesen war in meinem Kopf, damals, als Mili nicht mehr sprach, Mutter weinte, ich die Suppe kochte, die Schule nicht mehr stattfand. Am Grab von Izy fertigte ich ein Kreuz und hielt mich fest am Zählen meiner Schnitte und Schnitzer. Und plötzlich wurde ich gefragt, ob ich dem achtjährigen Sohn des Ortsvorstehers Unterricht geben möchte. Mit sechzehn wurde ich sein Lehrer. Stellen Sie sich das vor! Sogar später dachte ich das, als ich erfuhr, dass nicht nur meine Mutter, sondern auch meine Schwester tot war, dass Mili nach Szcinski zu einem Bauern verfrachtet worden war, der hatte eine Frau mit acht Kindern, die schaffte das alleine nicht mehr. Mili schaffte es auch nicht. Da stand Onkel Stani plötzlich da. – Nur Paula, die hätte mich fast umgebracht.
    Sie schweigt.
    Sie weiß, wer Paula ist, einmal hat er schon drei Sätze zu viel über sie verloren; und musste innehalten. So wie jetzt.
    Springt man über den Graben, und welche Gewissheit braucht man, um es zu tun? Wenn du das Fleisch auftaust, dann musst du es auch zubereiten. Satz von Agota.
    Paula. Sagt er noch einmal.
    Niemand sprach so wenig wie Paula und niemand lachte so wenig. Bili ń ski suchte nach ihrem Gesicht, sicher schon zum dritten Mal in dieser Nacht, seit er sie so vor sich gesehen hat, ganz dicht neben sich, aber er glaubt nicht, dass er ihr Gesicht auch

Weitere Kostenlose Bücher