Was im Dunkeln liegt
wohl nach Kington fahren müssen.« Simon schien mir gar nicht zuzuhören. Er blickte über mich hinweg zur Küchentür, beinahe so, als könnte er
durch sie hindurch in den Garten sehen. »Es wäre besser, die Einkäufe sofort zu erledigen«, beharrte ich. »Ihr könnt, wenn nötig, auch bis abends im Garten arbeiten, aber die Geschäfte schließen um halb fünf.«
Diesmal erreichten ihn meine Worte. »Du hast recht«, sagte er bedächtig. »Ich werde Danny Bescheid geben.«
25
Man sagt, oben im Norden sei das Wetter kalt und grimmig, und wer auch immer »man« sein mag, an diesem Nachmittag entspricht das zweifellos der Wahrheit. Obwohl noch nicht ganz drei Uhr, ist es bereits so dunkel, dass ich die Scheinwerfer einschalten muss. Die ersten Regentropfen treffen genau in dem Moment auf die Windschutzscheibe, als ich durch das Tor auf die Zufahrt von Broadoaks einbiege. Heute ist niemand auf dem Gelände, das unter dem stählernen Himmel windzerfurcht und abweisend aussieht.
Bei meinem ersten Besuch bin ich mit leeren Händen gekommen, aber diesmal habe ich eine Schachtel Pralinen dabei – ein Sortiment aus einfacher Milchschokolade, weil ich keine Ahnung habe, was sie gern mag. Ich hatte an Blumen gedacht, doch letztes Mal waren welche in ihrem Zimmer gestanden; vermutlich gehören frische Blumen in Broadoaks zum Gesamtpaket.
Während ich aus meinem geparkten Wagen springe und losrenne, den aufgespannten Schirm wie einen Schild vor mit hertragend, um Wind und Regen abzuwehren, überlege ich, ob ich meinen Besuch offiziell anmelden oder einfach nur anklopfen und ins Zimmer gehen soll. Allerdings sehe ich gar keine Möglichkeit, auf mich aufmerksam
zu machen. Eine Klingel scheint es nicht zu geben, aber ich werde durch das Auftauchen derselben Angestellten wie beim ersten Mal gerettet. Diesmal trägt sie eine andere Kette: irgendwelche rosa Steinsplitter, unregelmäßig aufgefädelt – abscheulich. Sie nimmt mir meinen tropfenden Schirm aus der Hand und spult das gleiche Programm wie beim letzten Mal ab. Während sie das tut, geht mir plötzlich ein Licht auf. Es muss eine Videoüberwachungsanlage geben, die es den Bediensteten ermöglicht, jeden Besucher an der Tür abzufangen. Um den alten Damen ein Gefühl von Sicherheit zu geben, werden keine Kosten gescheut.
Argwöhnisch beäugt sie meine Pralinenschachtel. »Sie müssen sich leider auf eine große Veränderung gefasst machen«, sagt sie. Die Hand auf dem Knauf von Mrs Ivanisovics Tür, zögert sie, möchte mich vielleicht gern vorbereiten, aber findet nicht die richtigen Worte. Schließlich tritt sie zur Seite und hält mir, wie bei meinem ersten Besuch, die Tür auf.
Mrs Ivanisovic liegt im Bett – diesmal unter der Decke, die bis zu ihrer Brust hochgezogen ist; die pastellfarbene Tagesdecke ist unter der breiten Falte eines weißen Baumwolllakens verschwunden, das so makellos glatt ist, dass sich Mrs Ivanisovic offenbar kaum bewegt hat, seit sie darunter verpackt worden ist. Sie sieht aus wie ein kleines, in fremde Haut gekleidetes Skelett, um das irgendjemand Stoffe drapiert hat. Ihre Sauerstoffmaske ist zu einem festen Bestandteil von ihr geworden und wird durch dünne Bänder aus bleichem Plastik am Platz gehalten. Sie überträgt das einzige Geräusch in dem Zimmer – das flache Pfeifen und Röcheln von Mrs Ivanisovics Atem. Ihre Augen sind geschlossen.
Leise, um sie nicht zu stören, setze ich mich auf den Stuhl neben dem Bett. Ich habe immer noch die Pralinenschachtel in den Händen und sehe mich nach einem Platz um, wo ich sie ablegen kann, doch ihr Nachttisch ist mit allen möglichen Dingen vollgestellt: einem Krug, einem Wasserglas, einer Brille, einer kleinen Dose mit Süßstoff (als müsste sie sich Sorgen um ihr Gewicht machen) – die letzten Zeugen ihres schwindenden Lebens.
Meine Mutter ist im Krankenhaus gestorben, in einem anonymen Krankenhausbett mit metallenen Seiten, die bei jeder Bewegung schepperten, und einem wichtig aussehenden Diagramm, das ans Fußende des Bettes geklemmt war. Das Bett war vom restlichen Krankenzimmer durch dünne Baumwollvorhänge getrennt, ein graugrüner Stoff, den irgendein Angestellter des Gesundheitswesens wohl einst irrtümlich für geschmackvoll gehalten hatte – oder vielleicht war es ein Sonderposten gewesen, der billig verramscht wurde. Es ist klar, dass Mrs Ivanisovic all diesen unwürdigen Dingen nicht ausgesetzt sein würde. Sie wird die Möglichkeit haben,
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