Was im Dunkeln liegt
still und diskret in Broadoaks zu verscheiden, in einem Zimmer, gefüllt mit ihren persönlichen Dingen und mit Blick in den Garten (wenngleich gegenwärtig durch unwetterartigen Regen verhindert).
Ich sitze etwa zehn Minuten da, ohne dass Mrs Ivanisovic mich wahrnimmt, lausche ihrem Atem, der sich, wie ich nach und nach gewahr werde, mit dem zarten, gleichmäßigen Ticken ihrer Uhr vermischt. Die beiden Geräusche ergänzen einander, ertönen nie gleichzeitig, sondern stets im Wechsel.
Schließlich stehe ich auf und tappe auf Zehenspitzen zu der Kommode, um die Pralinenschachtel zu ihrer Sammlung
gerahmter Fotos zu legen. Auf den meisten Bildern sieht man Danny und seine Eltern. Es gibt noch eines von Dannys Vater als jungem Mann, und mir fällt die extreme Ähnlichkeit auf. Sie haben die gleichen Augen. Dunkel und tief, voller Lachen …
Mrs Ivanisovic rührt sich hinter mir. Nur eine winzige Bewegung, doch ich nehme sie wahr, drehe mich um und sehe ihre geöffneten Augen. Sogleich kehre ich an ihr Bett zurück, setze mich aber nicht hin. Sie blickt zu mir hoch, auf eine Art, die mich zweifeln lässt, ob sie mich tatsächlich erkennt.
»Ich bin es – Katy«, sage ich leise. »Ich bin gekommen, wie ich es Ihnen versprochen habe.«
Sie nickt kaum wahrnehmbar – nur eine winzige Bewegung, um zu zeigen, dass sie versteht; dass sie weiß, wer ich bin.
Ich erwähne die Pralinen nicht. Unschlüssig, was ich sagen soll, nehme ich meinen Platz wieder ein und ergreife ihre Hand. Sie begrüßt diese Geste mit einem leichten Drücken meiner Finger. Ihre Haut fühlt sich feucht und kalt an. Sie versucht, etwas zu sagen, aber die Sauerstoffmaske hindert sie daran.
»Schon in Ordnung«, sage ich. »Versuchen Sie lieber nicht zu sprechen.«
Ungeduld flackert in ihren Augen auf. Offenbar gibt es etwas, das sie mir mitteilen möchte: Sie gestikuliert mit ihrer freien Hand, die wie ein Schmetterling über der Bettdecke schwebt.
»Soll ich Ihnen etwas bringen? Nach der Schwester läuten?«
Ihr Kopf rollt von einer Seite zur anderen – die Schwester ist definitiv nicht gefragt.
Ich drehe mich um, damit ich sehen kann, worauf sie zu deuten scheint. »Die Fotos?«, frage ich, falls sie den Wunsch haben sollte, dass ich ihr ein oder zwei Fotos zur näheren Ansicht bringe – obwohl sie, weiß Gott, inzwischen jedes auch noch so winzige Detail darauf kennen muss. Doch auch die Fotos sind es nicht. Systematisch arbeite ich mich durch das Zimmer, schlage einen Gegenstand nach dem anderen vor und ernte jedes Mal ein Kopfschütteln. Schließlich enden wir bei einer Schublade in der kleinen Kommode. Sie möchte, dass ich die Schublade aufziehe. Widerwillig leiste ich ihrer Hand Folge, fürchte weitere Zeitungsausschnitte – doch sie hat es auf ein Fotoalbum abgesehen. Wahrscheinlich hat sie mein Interesse an den Familienfotos dazu inspiriert. Sie glaubt, sie würde mir eine Freude machen, indem sie mir noch mehr Bilder zeigt.
Ich trage das Album zu ihr hinüber und lege es so auf das Bett, dass wir beide hineinsehen können. Ich kann mir schlimmere Möglichkeiten vorstellen, den Nachmittag zu verbringen. An den ersten Seiten scheint sie nicht interessiert zu sein (Dannys Grundschulfotos, gemischt mit Schnappschüssen aus dem Sommerurlaub). Sie will mir ganz offensichtlich etwas zeigen, das sich weiter hinten im Album befindet. Als wir zu der richtigen Seite kommen, flattert ihre Hand gegen die Bettdecke. Es ist klar, welches Foto ihrer Ansicht nach für mich von Interesse sein soll: ein Bild von Danny und mir, wie wir uns an den Händen halten, eher uns ansehen als in die Kamera blicken. War er tatsächlich so viel größer als ich? Das hatte ich völlig vergessen. Es ist ein romantisches Foto – eine spontane Momentaufnahme, kurz bevor wir die Blicke voneinander lösten, um in die Kamera zu lächeln.
Sie bewegt aufgeregt die Hand. Gibt Laute von sich, die ich nicht verstehe.
»Das sind Danny und ich«, sage ich, um einen freudigen Ton bemüht.
Sie stößt noch mehr Laute aus. Zuckt mit dem Kopf. Ich glaube, ich weiß, was sie will.
»Soll ich das Foto nehmen?«
Sie nickt, entspannt sich. Schließt die Augen. Diese Sache war sehr anstrengend für sie.
Ich will das Foto nicht und nehme es deshalb auch nicht heraus. Vielmehr blättere ich eine Seite weiter und sehe mich völlig anderen Motiven gegenüber: Klippen, wilde Blumen – alles in diesen verwaschenen Farben, die nun unsere Welt
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