Was im Leben zählt
hier ums Wesentliche kümmere. Oder ist das zu viel verlangt? Ich drückte ihm die Schlüssel in die Hand, und er machte sich ohne ein weiteres Wort vom Acker.
Jetzt sitze ich mit angezogenen Füßen in dem Samtsessel, der im Gästezimmer in der Ecke steht, eine Decke über den Beinen, und leiste meinem Vater Gesellschaft. Durchs offene Fenster weht eine frische, besänftigende Brise ins Zimmer, die nach der glühenden Hitze von gestern wie Balsam wirkt.
Während ich darauf warte, dass mein Vater endlich zu sich kommt und mir eine vernünftige Erklärung für all das gibt, versuche ich, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich nehme CJs Zeugnis zur Hand – sie will sich im Herbst am Wesleyan College bewerben: Zusammen mit der Bewerbung in die Ferne packt sie sämtliche Hoffnungen für die Zukunft mit in den Umschlag. Ich ziehe die Unterlagen aus meiner Tasche. Dabei fällt das Foto von Susanna zu Boden, das ich gestern gemacht habe. War das wirklich erst gestern? , denke ich. Es kommt mir vor, als wäre das Ewigkeiten her. Vor dem unschönen Zwischenspiel mit Ashley Simmons. Vor der explosiven Szene mit Darcy auf dem Friedhof. Bevor mein Vater besoffen gegen einen Baum geknallt ist. Vor meiner schrecklichen Vorahnung, dass er genau das tun würde. Vor allem der letzte Punkt sitzt wie ein Stachel.
Ich lasse das Foto in die Tasche fallen und gleichzeitig damit alle Hoffnung auf Ablenkung. Zwanghaft kreisen meine Gedanken um den seltsamen Traum von letzter Nacht. Er war so greifbar, und ich bin tatsächlich in Ohnmacht gefallen, einfach so. Mein Vater holt keuchend Luft, und ich sehe ihn an, in Erwartung einer Erklärung, in Erwartung von etwas Greifbarerem als dem, was Timmy Hernandez mir in der grellen Neonbeleuchtung einer verschlafenen Polizeistation zu berichten hatte.
Timmy war so nett, keine Anzeige zu erstatten.
«Tyler und ich kennen uns schon eine Ewigkeit», sagte er zu mir, berührte mich am Ellbogen und beugte sich so nah herüber, dass ich seinen schalen Kaffeeatem riechen konnte. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte geschworen, dass er versuchte, einen Blick auf meine Brüste zu erhaschen. «Du weißt schon, noch von damals, aus der Mannschaft. Das tue ich ihm zuliebe.» Wer ihn heute sieht, würde auf den ersten Blick niemals den unschlagbaren Werfer der 1995er Wizards in ihm vermuten. Inzwischen hängt Timmys Wampe über den abgegriffenen Ledergürtel, und sein Haaransatz ähnelt langsam den Großen Seen, so breit wird der Scheitel über seiner Stirn.
«Vielen, vielen Dank», sagte ich und versuchte, über seine massige Schulter hinweg meinen Vater zu erspähen.
«Die Sache ist nur die, Tilly –» Timmy hielt inne und rieb sich nachdenklich über den fetten Halsansatz. «So wie ich das verstanden habe, ist es nicht zum ersten Mal passiert.»
«Nein. Nein, du hast recht.» Ich wedelte mit der Hand durch die Luft und presste mit den Fingern gegen die Nasenwurzel. «Nach dem Tod meiner Mutter …»
Mir versagte die Stimme.
«Nein, das habe ich nicht gemeint» – Timmy senkte die Stimme –, «ich meine, das war nicht das erste Mal in letzter Zeit. Wir waren drüben in Micky Mantle’s und haben uns mit Cindy Heller unterhalten. So wie’s aussieht, war er in den letzten Wochen fast jeden Abend da.»
Als er Cindy Heller erwähnte, spürte ich förmlich, wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich. Wie eine Welle wogte mein Traum durch mich hindurch, als wäre ich unter einem Bann.
Die Haustür fällt ins Schloss, und mein Vater dreht sich stöhnend um. Tyler streckt den Kopf zur Tür herein und hebt wie zum Beweis zwei Einkaufstüten hoch. Ich lasse mich vom Sessel gleiten und gehe in die Küche.
«Wir sollten ihn nicht allein lassen», sagt Tyler und stellt die Tüten auf den Esstisch. «Was ist, wenn er wach wird?»
«Ich habe sämtlichen Alkohol aus dem Haus verbannt», sage ich, als wäre das alles, worüber ich mir Sorgen machen muss, wenn mein rückfälliger Säufervater in unserem Gästezimmer aus dem Delirium erwacht, während ich auf der Party bei meiner Schwester an Spareribs und Maiskolben nage. Ty starrt mich kurz böse an, doch dann ist die Vorstellung, wie sein geliebtes, eiskaltes Bier durch den Ausguss fließt, offensichtlich schon wieder vorüber. Mein Gott, werd endlich erwachsen! , denke ich. Was ist nur los mit mir? So war ich doch früher nicht. Ich atme hörbar aus, versuche, diesen Groll in mir loszulassen und eine optimistischere Perspektive
Weitere Kostenlose Bücher