Was im Leben zählt
zuzubewegen, ihm die Schnapsgläser aus der Hand zu reißen, sie zu Boden zu werfen, wo sie zu tausend winzigen Scherben zersplittern, und ihn hier rauszuzerren. Doch als ich meinen Beinen den Befehl gebe, sich in Bewegung zu setzen, merke ich, dass ich an Ort und Stelle festgenagelt bin, dass ich gelähmt bin, und ich kann schreien und schreien und schreien und versuchen zu rennen, sosehr ich auch will, ich bin stumm und starr, unsichtbar und vollkommen hilflos.
Mein Vater kippt den allerletzten Schluck hinunter und steht auf. Er muss sich an der dunklen Holztheke festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und während die Horde in der Ecke sich johlend über einen erzielten Run freut, schwankt mein Vater in Richtung Ausgang. Ehe er hinaus in die milde, sternenklare Nacht tritt, angelt er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schwenkt ihn triumphierend, als hätte er soeben einen besonders guten Fang gemacht. Ich versuche, über den Lärm und Krawall hinweg zu ihm durchzudringen, ich schreie «Um Himmels willen, Dad, stopp, Dad, stopp!», doch ich bin immer noch stumm, ohne Stimme, und ich kann nur zusehen, wie mein Vater aus der Bar ins Freie wankt, raus auf den Parkplatz, und für den Bruchteil einer Sekunde, ehe die Tür wieder zuschwingt, hoffe ich verzweifelt, dass es ihm gutgeht, dass alles in Ordnung ist, obwohl ich weiß, so sicher wie ich je etwas gewusst habe, dass rein gar nichts in Ordnung ist.
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Vier
T illy! Tilly? Geht’s dir gut?» Jemand tätschelt vorsichtig meine Wange, und ich öffne mühsam die Augen. Tyler schwebt über mir. «Tilly! Himmel! Geht es dir gut?»
«Uff», mache ich. Mir tut alles weh, mein Körper ist verdreht, und die Muskeln wehren sich gegen die ungewohnte Position. Langsam drehe ich den Kopf, um zu sehen, wo ich bin. Ich liege auf dem Fußboden, direkt neben der Kommode, links von mir eine zerbrochene Nachttischlampe. Ich fahre mir vorsichtig mit den Fingern über das Gesicht und spüre die Teppichabdrücke von einer Nacht auf dem Fußboden.
Tyler lässt seine Hände unter meine Achseln gleiten und hebt mich mühelos aufs Bett. Ich möchte, dass es für immer so bleibt, aber schon lässt er mich los, und ich sinke aufs Kissen.
«Himmel! Was ist denn passiert? Ich wollte dir deinen Kaffee bringen.» Er reicht mir eine Tasse vom Nachttisch. «Und da habe ich dich so gefunden.»
«Ich … ich weiß nicht», sage ich. «Ich hatte einen abartigen Traum. Von meinem Vater.»
Er fällt mir ins Wort. «Leg dich hin. Ich rufe Luanne an.»
«Lulu ist Hebamme. Was soll die denn da machen?», sage ich und nehme einen dringend benötigten Schluck Koffein zu mir. «Außerdem fühle ich mich gut. Keine Ahnung. Vielleicht bin ich einfach nur auf dem Teppich eingeschlafen.» Wir sehen uns an. Wir zweifeln beide an meinen Worten.
«Es sieht eher so aus, als wärst du umgekippt.»
«Nein. Nein, sicher nicht.» Ich versuche, meinen Traum zu verdrängen, den Traum, in dem mein Vater Hals über Kopf zurück in das schwarze Loch seiner Alkoholsucht gestürzt ist, in die selbstmörderische Spirale, in der er sich vor zehn Jahren schon einmal befunden hat und die schon damals einen sehr viel höheren Preis hätte fordern können. Nein. Mein Vater ist mit seiner Freundin auf Sommerreise in Puerto Vallarta, zum dritten Mal schon, er trinkt Virgin Margaritas und läuft mit einem albernen Touri-Sombrero und Hüfttäschchen am Strand entlang.
«Bist du sicher, dass es dir gutgeht?», fragt Ty.
«Ja.» Ich nicke. Eine Erinnerung durchfährt mich. Ashley Simmons, die Ich gebe dir Klarheit sagt. Ich schüttle das Bild ab.
«Willst du immer noch zu dem Grillfest gehen? Es wäre völlig in Ordnung hierzubleiben. Ich finde, wir sollten absagen.»
«Was? Natürlich will ich hin!» Ich drehe den Kopf zum Fenster, um nach dem Wetter zu sehen, und in meinem Rücken knackt vernehmlich ein beleidigter Wirbel. Mir fällt der Schweißfleck auf Tylers T-Shirt auf, die dunklen Stellen unter den Achseln. Während ich ohnmächtig auf dem Boden lag, war mein Mann eine Runde laufen.
Er wendet sich zum Spiegel, zieht sich mit einer einzigen, fließenden Bewegung das feuchte T-Shirt über den Kopf und seufzt dabei ein winzig leises Seufzen, das nur entziffern kann, wer seit zehn Jahren mit ihm verheiratet ist. Ich weiß, dass er lieber absagen würde. Ich weiß, dass er den Smalltalk mit Leuten leid ist, die er sowieso tagein, tagaus sieht. Dass er erst munter wird, wenn
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