Was im Leben zählt
einzuatmen.
«Ich bleibe bei ihm», bietet Ty sich an, die Selbstlosigkeit in Person.
«Ich will aber nicht ohne dich da hin!» Ich öffne die Plastikverpackungen, und Ty reicht mir eine Kuchenplatte.
«Ich finde, du solltest alleine gehen.» Wir holen gleichzeitig die Kuchen aus den Verpackungen und setzen sie auf die Platte. «Um ehrlich zu sein, mir reicht es noch vom Volksfest. Ich bin leergequatscht. Und ich meine wirklich, jemand sollte hier sein, wenn dein Dad aufwacht.»
Klar, und zwar ich , denke ich, genervt, weil er kneift und damit meinen positiven Ansatz torpediert.
«Na gut», sage ich seufzend, weil ich nicht mit ihm streiten möchte. Wir haben schon vor Jahren aufgehört, uns zu streiten, weil wir beide erkannt haben, dass es einfacher ist, den anderen so zu lassen, wie er ist. Außerdem traue ich mir im Augenblick selbst nicht über den Weg. Dieser ungewohnte Groll lauert auf meiner Zunge und droht ständig, sich Luft zu machen. «Luanne und Ben sind bestimmt enttäuscht. Und Charlie. Er wird sicher nach dir fragen.»
«Ich weiß.» Ty küsst mich auf die Wange und geht ins Gästezimmer, um nach meinem Vater zu sehen, und von dort aus geht er bestimmt in sein Zimmer, wo er sich wieder mal bereitwillig in diverse Baseballübertragungen versenkt; das Hintergrundgeräusch seines Lebens. «Sag ihnen, es tut mir leid. Sag ihnen, mir geht es nicht gut.»
Ich hole die Frischhaltefolie aus dem Schrank, um die Platte abzudecken, wickle sie sorgfältig ein, und als ich hinuntersehe, erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild, krumm und verzerrt wie in einem Spiegelkabinett. Ich starre mich an und erkenne mich selbst nicht wieder.
Später, nach dem Grillfest, entriegle ich die Vordertür und schlurfe in den dunklen Hausflur. Aus der Küche fällt Lichtschein in den Flur, der Schirmständer wirft dunkle Schatten. Meine Beine sind wie Blei, die Flip-Flops schlurfen über den Dielenboden. Ich fühle mich immer noch nicht besser. Ob es an der Anstrengung lag, mit einem falschen Lächeln im Gesicht mit Luanne zu schwatzen, daran, Darcy aus dem Weg zu gehen, die jeglichen Blickkontakt mit mir mied und stur auf ihrer Seite des großen Grabens blieb, an dem anstrengenden Kindergeschrei von Charlie und seiner Windelmatzgang, die laut kreischend durch den Rasensprenger im Vorgarten rannten, oder an der Einsamkeit, die ich empfand, weil mein Ehemann nicht an meiner Seite war, jedenfalls fühle ich mich wie erschlagen, hundemüde. Die Erschöpfung ist in jeder einzelnen Körperzelle zu spüren.
«Tilly?» Die Stimme meines Vaters ist ein heiseres Krächzen. Er hat in der Küche auf mich gewartet.
«Himmel!», rufe ich erschrocken und gehe zu ihm. Ich habe nicht mit ihm gerechnet. Ich habe mit überhaupt niemandem gerechnet. «Du bist wach! Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen!»
«Bitte entschuldige», sagt er mit gequältem Gesicht. «Ich wollte dir keine Angst machen.» Uns ist beiden klar, dass der Umfang dieser Entschuldigung auch viel weiter gefasst werden könnte.
«Was ist passiert?» Ich bereue die Frage noch im selben Augenblick, weil ich eigentlich nur noch ins Bett fallen, die Augen zumachen und die nächsten drei Tage nicht mehr aufwachen will. Mein Augenlid fängt an zu zucken, ein spontaner, unkontrollierbarer Ruf nach Ruhe.
«Ich frage wirklich ungern, aber hast du irgendwas zu essen?», fragt mein Vater, als sei er unfähig, in die Speisekammer zu gehen und selbst nachzusehen. Ich mache den Kühlschrank auf und hole einen Teller Hackbraten heraus, den ich vor zwei Tagen gemacht habe.
Ich setze ihm den Teller vor und ziehe einen Stuhl heran. Hoffentlich macht er es uns beiden leicht , denke ich, aber wenn ich näher darüber nachdenke, hat es noch nie zu den Stärken meines Vaters gehört, es irgendwem in seiner Umgebung leicht zu machen. Er stochert mit der Gabel in einer Scheibe Hackbraten herum, schiebt sie von einem Tellerrand zum anderen, führt ab und zu einen Bissen zum Mund und kaut nachdenklich darauf herum. Seine Kiefer mahlen und mahlen und mahlen. Es sieht aus, als wolle er nie wieder aufhören zu kauen, weil wir dann nicht reden müssen.
Schließlich, weil ich zu erschöpft bin, um noch länger zu warten, sage ich schlicht: «Bitte, Dad, erzähl mir, was passiert ist. Du warst so lange trocken.»
Er fährt sich mit den Fingern durch die buschigen grauen Haare. Ihm entfährt ein Stoßseufzer. Er zögert. Wahrscheinlich überlegt er, wie sich die Sache so hindrehen
Weitere Kostenlose Bücher