Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
Vom Netzwerk:
lässt, dass er in der Geschichte als Opfer dasteht; eine wilde Geschichte, wo der Barkeeper ihn festgehalten und ihm die Schnäpse gewaltsam eingeflößt hat, während er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Zumindest bildlich gesprochen. Denn mein Vater, früherer Football-Kapitän und zweifacher Geschäftsmann des Jahres, ist ein Mensch voller Widersprüche, der Inbegriff des Sprichwortes Der Schein trügt , denn was man sieht, ist oft nur ein Bluff, eine fadenscheinige Ausrede für das, was in Wirklichkeit in ihm vor sich geht. Aber heute Abend überrascht er mich.
    «Adriana hat mich verlassen», sagt er, den Blick auf den Eichentisch gesenkt.
    «Timmy Hernandez hat gesagt, du hättest ihm erzählt, sie sei in Mexiko», sage ich verwirrt. Ich kann es nicht glauben.
    «Ist sie auch. Momentan. Aber sie hat mich vor drei Wochen verlassen. Sie ist allein nach Mexiko geflogen.» Er seufzt. «Wir hatten schon sämtliche Tickets, und das Appartement war auch schon bezahlt.» Er sieht so furchtbar, furchtbar alt aus, als er das sagt; als hätte ihn sämtliche Lebensfreude verlassen, als wäre er bereit, ein für alle Mal Schluss zu machen. Die Falten neben seinem Mund graben sich tief in die Haut, und Schatten liegen wie schwarze Löcher um seine Augen. Ich muss an das Bild aus der untersten Schublade meiner Kommode denken, das Foto, auf dem unsere Familie unbesiegbar wirkt. Es ist schwer, den Schnappschuss vom Familienvater mit dem Mann in Einklang zu bringen, der hier vor mir sitzt. Mein Vater stupst lustlos das Stück Hackbraten auf seinem Teller an, und ich stehe auf, um ihm ein Glas Wasser zu holen.
    «Was ist passiert?» Ich halte das Glas zu lange unter den Hahn, von meinen Gedanken abgelenkt. Das kalte Wasser fließt auf mein Handgelenk, und ich schüttle es ab wie ein nasser Hund den Regen.
    «Sie hat Hautkrebs.»
    «Was?» Ich bin fassungslos. «Warum hast du uns nichts davon gesagt?»
    «Nein, nein. Es ist nicht so ernst, wie es klingt. Stadium eins. Ganz am Anfang. Sie haben alles erwischt. Da wird nichts bleiben.» Sein Gesicht wird aschfahl bei dem Gedanken daran, und der Wunsch nach einem Drink ist ihm deutlich anzusehen. Ich wische den Glasboden mit einem Küchentuch trocken und stelle ihm das Wasser hin. Er trinkt in langen, durstigen Schlucken, als wäre er ausgedörrter Boden, der dankbar ist für das Gewitter.
    «Und wo ist dann das Problem?»
    «Ich …» Er fängt an zu stottern, auf der Suche nach einem vernünftigen Grund, mit dem sich ein Rückfall erklären ließe. Seine Augen sind blutunterlaufen, seine Lider zittern heftig. «Ich konnte es einfach nicht akzeptieren. Dass es heilbar ist. Bei deiner Mutter … bei ihr ging es so schnell, und als Adie es mir gesagt hat … Ich konnte nicht akzeptieren, dass sie es überstehen würde.»
    «Wieso hast du mich nicht angerufen?»
    «Ich dachte, ich käme damit klar. Und Adie wollte es einfach nur hinter sich bringen und dann weitermachen, als wäre nichts Großartiges geschehen.» Er fuchtelte mit der Gabel in der Luft herum, wie um ein lästiges Insekt zu vertreiben. «Tja, wie dem auch sei … jedenfalls habe ich eines Abends ein Bier getrunken, um zu entspannen. Ich dachte wirklich, es würde bei dem einen bleiben. Und dann wurde es doch mehr als eins, und am nächsten Abend …» Er lässt den Kopf sinken. «Und so weiter.»
    «Und Adie?»
    «Du kennst doch ihre Null-Toleranz-Regel», sagt er, die Stimme schwer vor Schuld. Adies erster Ehemann war ein fürchterlicher Säufer gewesen, und sosehr sie meinen Vater auch liebte – und das tat sie wirklich –, sie hatte ihm von Anfang an unmissverständlich klargemacht, dass sie zu lange gebraucht hatte, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, um es sich noch einmal von einem Mann kaputtmachen zu lassen. Ich kann es ihr nicht übelnehmen, dass sie nach Puerto Vallarta geflogen ist. Wäre ich ein anderer Mensch, hätte ich dasselbe getan.
    «Und was jetzt?» Ich fasse nach seiner freien Hand, weil ich nicht anders kann, weil ich eben kein anderer Mensch bin, auch wenn ich für den Bruchteil einer Sekunde wünsche, es wäre so.
    «Jetzt höre ich wieder auf», sagt er.
    «Ach, komm, Dad! So einfach ist das nicht.»
    «Du wirst mir helfen», sagt er und verschränkt seine Finger mit meinen.
    «Dad …»
    «Bitte, Tilly! Bitte! Du hilfst mir immer.» Seine Stimme bricht. «Niemand kann mir so helfen wie du.»
    Ich möchte mich wehren, weil ich das Gleiche schon mal mitgemacht habe,

Weitere Kostenlose Bücher